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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Realität, und erfüllen sich dann all unsere Wünsche? Wenn ich sterbe … dann werde ich weiter und immer weiter in die zeitlosen Tiefen des unerforschten Alls getragen werden, umschlossen von diesem computergesteuerten Sarg, unbeweint und vergessen. Mit der Zeit wird die Atmosphäre sich verflüchtigen, und mein Körper, der unberührt daliegt wie der Schneewittchens, wird austrocknen, bis er nur noch eine mumifizierte Hülle aus ledriger Haut und vorstehenden Knochen ist …
    („Hallo? Hallo, Baby? Gute Nacht. Ja, nein, vielleicht … Orrk! Zeit zum Füttern“)
    („Oh, Ozymandias! Ja, ja, ich weiß … ich habe dich nicht gefüttert. Tut mir leid, ich weiß, ich weiß …“)
    (Klicken und Klirren.)
    Warum bin ich nur so selbstsüchtig? Nur weil ich nicht essen kann, erwarte ich von ihm zu rasch … Nein. Ich hab’s einfach nur vergessen.
    Er versteht es nicht, aber er weiß genau, daß etwas nicht stimmt. Er klettert wie eine Art dreibeiniges Monster an der Lampenstange hoch, wobei er sich seiner Füße und seines Schnabels bedient, dann sitzt er da und starrt mich mit seinen runden, glasigen Augen an, er starrt und starrt und murmelt vor sich hin. Wie ein Wahnsinniger! Bis ich es kaum mehr verhindern kann, ihn im Schrank einzusperren. Doch dann hüpft er wieder auf meine Schulter und küßt mich – so eine zärtliche Berührung an meiner Wange sollte man von einem Schnabel eigentlich gar nicht erwarten, der mühelos eine Walnuß öffnen kann –, um mich wissen zu lassen, daß er um mich besorgt ist und sich um mich kümmert. Dann streichle ich sein Gefieder, um ihm zu danken und ihm zu sagen, daß alles in Ordnung ist – aber das stimmt nicht. Und er weiß es.
    Bedauert er sein Leben? Würde er es ändern, wenn er könnte? Von seinen Artgenossen weggerissen, in einer sterilen Kuppel aufgezogen, um ein gefangenes Tier für eine gefangene Frau zu werden …
    Ich bin auch nur ein Vogel im goldenen Käfig. Ich will nach Hause.
     
    MITTWOCH, DER 11.
    Warum führe ich dieses Tagebuch? Glaube ich wirklich daran, daß ich eines Tages von Außerirdischen gefunden werde, oder daß mich ein Raumschiff aus der glorreichen Zukunft der Erde einholen wird … Glorreiche Zukunft, zum Teufel damit! Dumme, egoistische, kurzsichtige Narren! Nachdem sie mich losgeschickt hatten, haben sie das Raumfahrtprogramm gekürzt, und jetzt wird mir niemand mehr folgen können. Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht für tot erklären und mich vergessen.
    Als ob es jemanden interessieren würde, was eine einsame und verlassene Frau in einer Raumsonde über Jahrzehnte hinweg denkt. Was für eine monströse Selbsttäuschung.
    Ich habe heute die Verankerungen des großen Teleskops geschmiert. Das habe ich getan, damit ich es auf die Erde ausrichten kann … auf die Sonne … auf das ganze verdammte System. Denn ich kann es nicht einmal mehr sehen. Alle Planeten bis zum Saturn, alle Planeten, die die Altvorderen sahen, sind nun in einem Raum von zwei Monddurchmessern zusammengedrängt und kaum mehr sichtbar, wenigstens nicht für mein bloßes Auge. Sogar die Sonne ist nur ein winziges Sternchen geworden, dessen Anblick keine Gefühle in mir erwecken kann. Daher habe ich mit dem Teleskop nach ihnen gesucht …
    Komisch, wie man als Kind die Bilder von den Planeten betrachtet, große, farbige Planeten und goldene Strahlen um die Sonne herum. Irgendwie kommt man nie davon los, daß es auch in Wirklichkeit so aussehen müßte. Und ich bin jetzt tausend Astronomische Einheiten vom Sonnenpol entfernt und blicke aus großer Höhe hinab – aber es sieht überhaupt nicht so aus. Nicht mal durch das Skop kann man viel erkennen. Ein verwaschener Lichtfleck im Zentrum, darum die winzigen Pünktchen der Planeten und Monde, die man kaum von Hunderten gleicher Pünktchen dahinter unterscheiden kann, die auf demselben schwarzen Hintergrund angeordnet sind. So bedeutungslos, so winzig … so enttäuschend.
    Heute habe ich fünf Stunden damit verbracht, meine Aufzeichnungen anzuhören, um mich zu erinnern und … etwas zu finden, etwas, über das ich mir nicht im klaren bin … etwas, das ich heute nicht mehr habe.
    Am Anfang hatte ich es noch. Ich war eine Studentin, die singend und tanzend durch die Räume ihres eigenen Privatobservatoriums hüpfte. Es erschien mir wie der Himmel, und ein Leben lang schien mir keine ausreichende Zeit, alles zu sehen und zu entdecken, was es zu entdecken gab. Niemals würde ich mich langweilen, nein, ich doch nicht

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