Bernsteinsommer (German Edition)
Kira Lengrien.
Am Morgen des dritten Tages gestand er sich ein, dass die körperliche Arbeit ihm dieses Mal nicht unbedingt zu helfen schien. Außerdem schlief er kaum – und das war für ihn wirklich ein Problem, denn er war einer dieser Menschen, die ihren Nachtschlaf dringend benötigten, um vernünftig funktionieren zu können.
Nach dem Frühstück beschloss er, den Umbau im Dachzimmer ein wenig ruhen zu lassen, stattdessen den nachdrücklichen Rat von Magda Quint zu befolgen und sich eine Weile in den Dünen herumzutreiben. Also schnappte er sich einen leichten Pullover, warf ihn sich über die Schultern und verließ das Martinelli-Haus.
Hier, an ihrem nördlichen Ende, war die Insel recht schmal. Die Häuser von Werner Martinelli und Kira Lengrien standen jeweils einsam auf ihren Anhöhen. Die schmale Sandstraße, die die beiden Grundstücke miteinander verband, war gleichzeitig auch der einzige Verkehrsweg zum Dorf, sobald man die südliche Richtung einschlug.
Finn marschierte zunächst ein gutes Stück die Straße entlang, bevor er den Zufahrtsweg zu Kiras Haus verließ und einfach querfeldein ging. Schon nach wenigen Minuten erreichte er den Deich und dahinter schließlich die Dünen und einen schmalen Strandstreifen. Einige Minuten lang hielt er inne und sah hinaus auf das Meer, doch dann richtete sich sein Blick wieder nach Norden. Er verließ den Strand und stieg auf den Deichrücken zurück, um dort oben, wo es sich leichter laufen ließ, weiter bis zur Nordspitze von Sameland zu spazieren.
Für Kira begann dieser Tag spät. Sie hatte wieder einmal eine unruhige Nacht hinter sich und war erst am frühen Morgen eingeschlafen. Es war schon fast Mittag, als sie endlich mit schweren Lidern an ihrem Küchentisch saß und ihre erste Tasse Kaffee schlürfte. Sie trug noch immer ihr ärmelloses, weißesund knöchellanges Batistnachthemd – und sie war äußerst schlecht gelaunt, das hatte sie schon gespürt, als sie aufgewacht war. Es war das erste Mal, dass sie sich in diesem Haus einsam und nicht, wie sonst, geborgen fühlte. Unzufrieden und mit störrischer Miene stand sie schließlich auf und schüttete den Rest ihres Kaffees in die Spüle. Nach einem kurzen, strafenden Blick auf das Telefon fragte sie sich, ob der starke Wind der letzten zwei Tage nachgelassen hatte und ging, so wie sie war, nach draußen, um nachzusehen.
Die Frühlingssonne schien von einem wolkenlosen Himmel, und es war wieder deutlich wärmer geworden. Einige Minuten lang hielt sie ihre Nase in den sanften Wind und atmete tief ein. Die Luft roch würzig, nach Tang und Salzwasser. Kira liebte diesen speziellen Geruch, er hob ihre Stimmung sofort. Noch einmal zog sie tief die Luft in ihre Lungen, hob dabei ihre Arme hoch über den Kopf und schloss die Augen. Der Wind bauschte ihr Nachthemd auf und spielte mit ihrem Haar.
Finn stand wie gebannt oben auf dem Rücken des Deiches und beobachtete sie. Seine Hände schoben sich in die Vordertaschen seiner Jeans, und wieder einmal fluchte er leise in sich hinein. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, sie so zu betrachten, ohne dass sie eine Ahnung davon hatte. Doch auf der anderen Seite wusste er auch, dass sie nur den Kopf in eine andere Richtung zu drehen brauchte, und sie würde ihn entdecken. Schließlich versteckte er sich ja nicht. Sein Mund wurde trocken, als sie ihre Arme über ihren Kopf hob und einige Sekunden lang verharrte, als wollte sie den Wind einfangen. Durch den leicht transparenten Stoff ihres Nachthemdes zeichneten sich selbst auf diese Entfernung die Konturen ihres Körpers deutlich ab. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne und war noch zerzaust vom Schlaf. In ungezähmten Wellen wallte es ihr bis weit über die Schultern und den Rücken hinab. Finn musste wieder an das Bild einer Nixe denken, das er irgendwo einmal gesehen hatte. Eine Nixe, die ihren schlanken Körper aus der weißen Gischt des Meeres reckte und mit erhobenen Armen der Sonne entgegenlachte.Kiras lilienweißes, fast bodenlanges Hemdchen, das sich im warmen Wind um ihren Körper bauschte, unterstützte diesen Eindruck nur noch mehr. Eine rothaarige Nixe, die über Zauberkräfte verfügt und sie an mir ausprobiert, dachte er. Denn sie hatte ihn verzaubert, das war nur allzu offenkundig. Er hatte in seinem bisherigen Leben schon viele Frauen gekannt – einige hatte er gehabt und wieder verlassen. Finn Andersen, der Mann, der sich normalerweise keinen Flirt entgehen ließ, der Mann, der es gewohnt war
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