Bernsteinsommer (German Edition)
hatte dieser einsame und naturbelassene Ort eine ganz besondere Ausstrahlung, der man sich nur schwer entziehen konnte, das wurde auch Finn auf Anhieb bewusst.
Er suchte sich auf einem der weißen Felsen einen windgeschützten Sitzplatz und blickte hinaus auf die Ostsee. Das Meer war heute sehr ruhig, und die Sonne ließ die Wasseroberfläche silbrig glitzern. Sanfte Wellen brachen sich an den Felsen und machten dabei leise, klatschende Geräusche. Zusammen mit den Schreien der Möwen waren das die einzigen Laute, die Finn hören konnte. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück an den halbhohen Felsen in seinem Rücken.
Der Gedanke an Michael Grendler kam sofort.
Das war unvermeidlich, und er hatte im Grunde schon damit gerechnet.
Er war stets gegenwärtig, wenn Finn auch nur im Ansatz versuchte, sich diesem immer wiederkehrenden Schmerz zu entziehen und seiner Seele ein wenig Ruhe zu gönnen. Er würde es niemals loswerden, dieses grauenvolle Bild. Sein ganzes Lebenlang würde er an diesen Tag zurückdenken müssen, an den Tag, der einen so furchtbaren Schlusspunkt unter das Leben seines besten Freundes Mike gesetzt hatte.
Finn hob die Lider und schaute abermals auf das Meer, um das Bild wieder zu verdrängen, aber in seinem Kopf lebte es weiter, nein, es quälte ihn weiter. Er würde es immer sehen, Tag für Tag. Und es war das pure Grauen, das er sah. Das viele Blut und die Hirnmasse auf dem Asphalt, der leblose Körper seines Freundes, der Kopf nur noch ein ekelerregend blutiger Klumpen ohne Gesicht.
Und dann schließlich das Schlimmste: der Moment, als er zum ersten Mal danach wieder in die Augen von Lena Grendler, Michaels Frau, schauen musste.
Lena war gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger gewesen. Mike und sie hatten bereits einen Sohn, Jonas, damals fünf Jahre alt, und Jonas Grendler war Finns Patenkind.
Lena hatte Finn gleich am nächsten Tag in der Klinik besucht, in die seine Kollegen ihn vorsichtshalber verfrachtet hatten, nachdem er vor Schmerz und Trauer über den Tod seines Freundes getobt hatte wie ein Verrückter und dann schließlich zusammengeklappt war wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Natürlich hatte Lena ihm nicht die Schuld an Michaels Tod gegeben. Sie war schon immer viel zu sanft und verständnisvoll gewesen, wenn es um Finns Fehler und Schwächen ging.
Finn hingegen wusste es besser. Er allein war schuld daran, dass das Glück einer jungen Familie zerstört worden war, denn er selbst hätte an diesem Tag sterben sollen, nicht Mike.
Nach Mikes Tod hatte er sich einer Therapie unterziehen müssen, denn sonst hätte man ihn nicht mehr im Polizeidienst arbeiten lassen. Ein halbes Jahr später wurde er vom Polizeipsychologen wieder dienstfähig geschrieben, nachdem Finn selbst wiederholt darauf gedrängt hatte. Er war davon überzeugt, dass die Therapie ihm sowieso nichts brachte.
Finn hatte die Abteilungen gewechselt, um nicht wieder indas Büro zurückzumüssen, in dem er zusammen mit Mike gesessen hatte. Doch der Wechsel von einem Kommissariat in das nächste half ihm ebenso wenig wie die Therapie. Seine neuen Kollegen schätzten zwar seine Arbeit, mieden aber ansonsten den Kontakt mit ihm. Finn konnte es ihnen noch nicht einmal verübeln, da er ohnehin meist missgestimmt und wortkarg war.
Dann hatte er irgendwann verzweifelt damit begonnen, nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er den Polizeidienst ganz quittieren konnte. Ihm selbst hätte es nichts ausgemacht, einfach zu kündigen, aber er brauchte unbedingt eine echte Alternative, eben einen gut bezahlten Job, um Lena und die Kinder unterstützen zu können. Meine Güte, wenn er an diese Zeit zurückdachte …
Ein knappes Jahr nach Mikes Tod hatte er Lena sogar angeboten, sie zu heiraten, weil er damals der festen Überzeugung gewesen war, es wäre allein seine Aufgabe, sich um Mikes Familie zu kümmern – und zwar mit allen Konsequenzen. Lena hatte es damals wahrlich nicht leicht mit ihm gehabt, doch seither wusste Finn, welche Kraft wirklich in dieser zierlichen Person steckte.
Anfangs hatte sie sich auch noch gegen seine finanzielle Unterstützung gewehrt, doch darüber hatte er nicht mit sich reden lassen. Inzwischen akzeptierte sie stillschweigend die Überweisungen, die regelmäßig auf ihrem Konto eingingen. Wahrscheinlich hatte sie einfach eingesehen, dass es für Finn selbst fast noch wichtiger war als für sie und die Kinder, seine finanziellen Zuwendungen entgegenzunehmen.
Edgar
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