Bernsteinsommer (German Edition)
Augenaufschlag hatte alles verändert. Finn hatte ihr soeben deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie begehrte – und genau das hatte er offenbar gewollt. Nur das! Nicht mehr und auch nicht weniger.
Es ist schon erstaunlich, wie gut ich ihn schon kenne und verstehe, dachte sie, während sie angestrengt versuchte, sich wieder ein wenig zu beruhigen, indem sie bewusst langsam ein- und wieder ausatmete. Es dauerte trotzdem noch mehrere Minuten, bevor sie wieder in der Lage war, den Wagen zu starten und endlich loszufahren.
Finn war angetrunken genug, um geradewegs auf den Kühlschrank zuzusteuern und sich ein weiteres Bier zu genehmigen. Er öffnete die Flasche und setzte sie sofort an die Lippen. Noch während er gierig trank, löschte er bereits das Licht und stieg die Treppe hinauf. Oben angekommen, ließ er sich, so wie er war, auf das Bett fallen. Die Flasche in der Hand, schob er sich beide Kopfkissen in den Nacken und lehnte sich zurück, um einen weiteren Schluck zu nehmen. Allerdings war er noch nicht betrunken genug, um nicht genau zu wissen, was er soeben getan und vor allem, was er zu ihr gesagt hatte. Jetzt würde er die Folgen tragen müssen. Ein bitteres Lachen stieg in ihm auf.
Die Folgen?
Wenn Kira auch nur ein Wort ihrem Vater gegenüber erwähnen würde, wäre Finn endgültig am Ende. Und Kira würde unweigerlich erfahren, wer er wirklich war: ein Dobermann, der Ober-Dobermann ihres Vaters – auch wenn er das dann höchstwahrscheinlich nicht mehr lange bleiben würde. Sie würde ihn verachten. Und wenn Edgar tatsächlich herausfinden würde, dass Finn sein heiliges Töchterchen betatschte, wäre es mit seiner Karriere als Personenschützer ein für alle Mal vorbei. Edgar Lengrien war mächtig genug, um dafür zu sorgen, dass Finn Andersen in der gesamten Branche niemals wieder ein Bein auf die Erde bekommen würde.
Das wären die Folgen!
Dennoch gab es für ihn kein Zurück mehr. Die Entscheidung war ohnehin schon in der Sekunde gefallen, als er zum ersten Mal in Kira Lengriens meerblaue Augen gesehen hatte, das wusste er jetzt. Keine Macht der Welt konnte ihn jetzt noch aufhalten. Magda Quint hatte ihm heute Abend die Augen geöffnet. Er würde sein Leben nicht vergeuden, denn er würde Kira Lengrien lieben! Und wenn es auch nur für eine oder wenige Nächte sein sollte. Die Verantwortung dafür würde er eben tragen müssen. Ja, heute Abend war ihm bewusst geworden, dass Kira schon jetzt sein Leben verändert hatte.
Seit er sie kannte, dachte er vor dem Einschlafen nur noch an sie, sah stets ihr hinreißendes Gesicht vor sich. Die grauenvollen Bilder vom Tod seines besten Freundes waren zwar noch immer da, aber sie verfolgten ihn nicht mehr ganz so vehement. Kira beherrschte seine Gedanken – und seine Träume. Nur sie schien es für kurze Zeit zu schaffen, seine Dämonen in Schach zu halten.
Die Folgen?
Darüber wollte er jetzt nicht mehr nachdenken.
Finn erhob sich, stellte die leere Bierflasche beiseite und ging hinüber zum Schreibtisch. Der Computer lief, wie fast immer. Er hatte ihn vorhin ausschalten wollen, bevor er zu ihr gefahren war, aber dann hatte er es doch vergessen. Alles war ruhig in ihrem Haus. Auf dem Bildschirm sah er einen kleinen Lichtpunkt, der sich im ersten Stock ihres Hauses bewegte: Kira. Seiner Schätzung nach war sie nun ebenfalls in ihrem Schlafzimmer. Aus einem Impuls heraus griff Finn nach dem Hörer seines Telefons und wählte ihre Nummer. Es klingelte nur einmal, da hob sie auch schon ab.
„Ja?“
„Kira, ich bin’s.“
„Hallo Fremder!“
„Ich wollte dir noch mal eine gute Nacht wünschen.“
„Das ist … nett.“ Ihre Stimme klang wieder einmal ein wenig heiser. „Dann wünsche ich dir ebenfalls eine gute Nacht, Finn.“
„Ich denke an dich, Kira. Die ganze Nacht werde ich an dich denken.“
Sie blieb stumm, aber er konnte hören, wie schnell sie atmete, und eine Frau mit schnellem Atem war außerordentlich erregend. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie sie jetzt mit dem Telefon am Ohr auf ihrem Bett saß.
„Kira? Sag was!“
„Ich … bis morgen, Finn.“ Dann legte sie auf.
Finn ließ den Hörer sinken und stand eine Weile unbewegt da. Er dachte an Mike, aber dieses Mal dachte er nicht an den toten Mike, sondern an den Freund, mit dem er jetzt gerne gesprochen hätte. Aber es gab noch mehr Menschen in seinem Leben, die ihn liebten, so wie er war, und ihm zuhören würden. Es war fast ein bisschen grotesk, dass
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