Bernsteinsommer (German Edition)
diese Tatsache ihm erst jetzt bewusst wurde. Insgeheim hatte er die Brockmann-Geschwister heute Abend dafür bewundert, dass sie ihr Leben auf eine gemeinsame Basis gestellt hatten. Man spürte den Zusammenhalt dieser drei sofort, und Finn war es besonders leichtgefallen, die Verbundenheit der beiden Brüder nachzuempfinden. Auch Lukas und er hatten sich stets sehr nahegestanden, doch dann war das mit Mike passiert, und seither war vieles anders geworden. Seine Familie hatte sich liebevoll um ihn bemüht und tat das auch heute noch, besonders Lukas, aber Finn hatte sich nach und nach immer mehr in eine Art Schneckenhaus zurückgezogen und niemanden mehr an sich herangelassen.
Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass Mitternacht schon lange vorüber war, aber das spielte keine Rolle. Sein Bruder brauchte im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig Schlaf, das war schon immer so gewesen. Finn atmete noch einmal gründlich ein und wieder aus, dann wählte er Lukas’ Telefonnummer. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Lukas sich am anderen Ende meldete. Wie Finn es sich bereits gedacht hatte, klang die Stimme seines Bruders nicht verschlafen, sondern hellwach.
„Andersen.“
„Hallo, kleiner Bruder.“
„Finn? Verflixt noch mal, wo treibst du dich rum? Der Himmel weiß, warum du ständig dein Handy ausgeschaltet hast! Mann, warum besitzt du überhaupt eines, wenn du es nie benutzt? Mama wollte schon bei Lengrien anrufen, weil du dich jetzt schon seit fast drei Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet hast. Ich meine, sie ist ja einiges von dir gewöhnt, aber …“
„Ich freue mich auch, deine Stimme zu hören, Lukas.“ Finngrinste den Hörer an, als sein Bruder ein missbilligendes Geräusch ausstieß, statt zu antworten. „Ich erledige nur einen Auftrag von Lengrien und bin zurzeit auf einer kleinen, netten Insel in der Ostsee.“
„Auf einer Insel?“
„Ja.“
Einige Sekunden lang blieb es still.
„Ist mit Mama und Papa alles in Ordnung?“, fragte Finn schließlich.
„Ja, alles in bester Ordnung. Sie haben sich gerade in einen Flieger gesetzt und sind in die griechische Sonne geflogen. Ich glaube, so langsam fängt unser alter Herr doch noch damit an, seinen Ruhestand zu genießen. Ich soll dich übrigens grüßen und dir die Ohren lang ziehen, wenn ich dich zu fassen kriege – und bevor du fragst, ja, unserem Schwesterchen geht es ebenfalls blendend. Sie ergötzt sich noch immer jeden Tag aufs Neue daran, anderen Menschen den Brustkorb zu öffnen.“ Lukas lachte kurz auf. „Finn, lassen wir jetzt mal den Small Talk über die Familie beiseite, okay? Es ist gleich ein Uhr, und dein Schlaf war dir immer ziemlich heilig. Du hast also ein Problem“, stellte Lukas schließlich in seinem gewohnt ruhigen Tonfall fest.
„Stimmt. Ein gewaltiges Problem sogar.“
„Rede! Ich bin ganz Ohr.“
Noch während Finn seinem Bruder alles erzählte, ging er wieder nach unten in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen. Einige Zeit später saß er mit dem dampfenden Becher in der einen und dem Telefonhörer in der anderen Hand am Küchentresen und wartete auf Lukas’ Reaktion.
„Finnegan, Finnegan! Du sitzt ganz schön in der Scheiße.“
„Was soll ich tun, Lukas? … Was würdest du an meiner Stelle tun?“
Lukas Andersen stieß ein Schnaufen aus. „Weißt du, mein normalerweise gut funktionierendes Hirn sagt mir, dass du auf der Stelle da verschwinden solltest. Sag nichts! Ich weiß ja, dass das schwierig werden könnte, aber wenn du noch halbwegs heil aus der Sache herauskommen willst, solltest du dich ab sofortvon der Dame fernhalten! Sprich gleich morgen früh mit ihrem Daddy und erzähl ihm irgendwas. Schieb meinetwegen die Familie vor, was weiß ich. Lass dir was einfallen. Du musst von dieser verdammten Insel weg! Das ist ja fast, als hätte man dich mit dieser Sirene irgendwo eingeschlossen.“
„Du hast mich nicht verstanden, Lukas. Ich will hier gar nicht weg, verstehst du! Dafür ist es zu spät; dafür war es von Anfang an zu spät. Ich will sie – und ich werde sie mir nehmen!“
„Meine Güte, Finn, wie redest du denn! Mann oh Mann, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! Komm mal zu dir! Die Frau hat ja wohl auch noch ein Wörtchen dabei mitzureden, oder?“
„Kiras Wünsche unterscheiden sich nicht im Mindesten von meinen, glaub mir. Daran hat sie von Anfang an keinen Zweifel gelassen.“
Wieder stieß Lukas Andersen ein äußerst missbilligendes Grummeln aus. „Dann
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