Bernsteinsommer (German Edition)
Langsam schob sie den weißen Umschlag zu ihm über den Tisch und sah ihm dabei direkt und sehr ernst in die Augen. „Sieh dir das bitte an, Finn.“
Er öffnete zögernd den Umschlag und zog einen kleinen Stapel Fotos heraus. Die meisten Bilder waren mehr oder weniger verwackelt, aber er erkannte sofort, dass es sich um Fotos handelte, die Jonas an eben jenem Tage geschossen hatte. Finn musste sich räuspern und hatte plötzlich einen riesigen Kloß im Hals. „Was willst du mir damit sagen, Lena?“
„Es sind nur drei Fotos, die wirklich wichtig sind, du wirst schon sehen.“
Sie hatte kaum ausgesprochen, da hielt er sie auch schon in der Hand. Drei Fotos, ebenfalls leicht verwackelt, und doch konnte man den Mann darauf klar und deutlich erkennen. Es war Mike. Mike, der draußen vor dem Haus vor Finns Auto hockte. Mike, der einen langen glänzenden Gegenstand – vielleicht einen Metalldorn oder ein langes Messer – in der rechten Hand hielt. Den Gegenstand konnte man auf den verwackelten Fotos nicht zweifelsfrei identifizieren, Michael Grendler jedoch schon.
Finn starrte eine Weile wie betäubt auf die Fotos, dann stöhnte er laut auf. „Mike, verdammt! … Wie …?“
Jetzt war es Lena, die ihre Hand auf Finns legte und leicht zudrückte. „Finn … er hat gewollt, dass du aufgehalten wirst, verstehst du! Das war geplant! Michael wollte dir endlich einmal eine Nasenlänge voraus sein. Ich habe es sofort gewusst, als ich diese Fotos sah, denn er hat sich nicht nur einmal bei mir darüber ausgelassen, dass du ihm niemals eine Chance lässt, auch mal voranzugehen, wenn es brenzlig wurde. Dieses Mal wollte er offensichtlich sicherstellen, dass er endlich einmal vor dir am Einsatzort war.“
In Lenas Augen schimmerten Tränen. „Natürlich konnte ernicht wissen, dass er damit in seinen eigenen Tod rennen würde, aber er hat … Finn, er war es selbst, der dich daran gehindert hat, rechtzeitig bei ihm zu sein. Erkennst du es? Kein dummer Zufall, keine Unachtsamkeit war schuld, Finn! Es war Michael selbst – und es war seine Absicht!“
„Mein Gott!“ Finn bemerkte die Tränen kaum, die auch ihm jetzt über das Gesicht liefen, aber er spürte sehr deutlich, wie sich in seiner Brust der Druck verringerte.
Erst kurz nach drei Uhr morgens war Finn wieder zu Hause in seiner eigenen Wohnung. Lena und er hatten einfach noch eine Weile gebraucht, um die neue Entwicklung um Mikes Tod gemeinsam aufzuarbeiten – und schließlich hatte er ihr auch von Kira erzählt. Wie zu erwarten, hatte Lena allein aus seinen Erzählungen heraus sofort erkannt, dass er ernsthafte Gefühle für Edgars Tochter hegte – und sie hatte ihm eindringlich dazu geraten, diese Gefühle nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und noch einen Versuch zu wagen, die Frau zurückzugewinnen. Finn selbst machte sich hingegen keinerlei Illusionen. Er war der festen Überzeugung, bei Kira Lengrien ein für alle Mal verspielt zu haben.
9. KAPITEL
F inn schaffte es tatsächlich, fast bis zum nächsten Mittag durchzuschlafen; trotzdem fühlte er sich noch immer wie gerädert, als er endlich aufstand. Nach einer ausgiebigen Dusche, die ihn zumindest ein bisschen wacher machte, kochte er sich einen starken Kaffee und führte ein paar überfällige Telefonate mit seiner Familie. Anschließend rief er im Büro an und ließ sich von Frau Wendisch die Anschrift von Christina Sommer durchgeben.
„Richten Sie dem Chef doch bitte aus, dass ich in circa zwei Stunden meinen Posten beziehen werde, Frau Wendisch. Sobald sich irgendetwas Neues ergibt, melde ich mich bei ihm.“
„Gut, Herr Andersen, ich werde es ihm ausrichten. Einen schönen Tag für Sie.“
„Den wünsche ich Ihnen auch, Frau Wendisch.“
Schließlich kontaktierte Finn noch die beiden Kollegen, die Kiras Bewachung übernommen hatten, und erfuhr so, dass Lengriens Tochter sich seit ungefähr einer Stunde in einem Einkaufszentrum aufhielt. In Finns Magen begann es sofort nervös zu kribbeln. Einkaufszentren waren kein guter Platz für eine sicherheitsrelevante Überwachung. Für seinen Geschmack hielten sich dort immer viel zu viele Menschen auf.
Kira ließ sich Zeit und schlenderte ausgesprochen gemächlich durch die einzelnen Läden. Heute Morgen war sie zunächst mit heftigen Kopfschmerzen aufgewacht, aber inzwischen ging es ihr deutlich besser. Deshalb hatte sie beschlossen, dass sie unbedingt etwas Neues zum Anziehen brauchte, allein schon, um endlich auf andere Gedanken zu
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