Bernsteinsommer (German Edition)
also und erhob sich, um trotz ihrer zittrigen Knie möglichst schnell von ihm wegzukommen.
Kurz bevor sie die Tür des direkt angrenzenden Schlafzimmers hinter sich zuzog, konnte sie noch sehen, dass Finn – das Gesicht mit den Händen bedeckt – weit nach vornübergebeugt dasaß und sehr kontrolliert und gründlich ein- und wieder ausatmete. Kaum zwei Minuten später hörte Kira, wie von der Wohnzimmerseite aus der Schlüssel herumgedreht wurde.
Der nächste Morgen begann zunächst sehr ähnlich wie der vorangegangene.
Nach einer beinahe schlaflosen Nacht duschte Finn bereits im Morgengrauen, zog sich an und wartete darauf, dass die Einkäufe, die er in Auftrag gegeben hatte, von einem seiner Mitarbeiter gebracht wurden. So leise es ihm möglich war, schlich er in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. DieArme vor der Brust verschränkt, starrte er aus dem Küchenfenster und grübelte vor sich hin, während er darauf wartete, dass der Kaffee durchlief.
In den letzten Tagen machte er sich immer wieder Gedanken über seine Zukunft. Da er so etwas in der Vergangenheit eigentlich niemals getan hatte, konnte er sich darüber eigentlich auch nur wundern.
Die meisten persönlichen Entscheidungen in seinem Leben hatte er stets aus dem Bauch heraus, also sehr oft spontan und ohne großes Nachdenken oder gar Abwägen irgendwelcher Vor- oder Nachteile getroffen. Seit Edgar Lengrien ihm aber vor einigen Tagen dieses verlockende Angebot unterbreitet hatte, war plötzlich alles von Grund auf verändert. Jetzt dachte er ernsthaft darüber nach, tatsächlich den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen, und auch darüber – das war der entscheidende Punkt –, welche beruflichen und privaten Konsequenzen diese Entscheidung letztlich für ihn hätte.
Das Angebot reizte ihn, das war keine Frage. Er mochte seine Arbeit, und er liebte die Herausforderungen, die sie mit sich brachte. Der Reiz der richtigen Strategie stand dabei stets im Vordergrund. Das Planen und Organisieren, die Entwicklung von Konzepten, der technische Aufwand, die Auswahl der Männer, ja, sogar die Leitung des Trainings – all das machte ihm immensen Spaß und füllte ihn aus.
Sah man einmal von dem normalerweise täglichen Training ab, ergab sich diese besondere Arbeit bei „Lengrien & Martinelli“ allerdings nur bei einigen wenigen Veranstaltungen und Gelegenheiten. Die meiste Zeit des Jahres beschränkte sich seine Tätigkeit, genauso wie die seiner Männer, auf den reinen Personenschutz einiger hochrangiger Angestellter der Firma und vorrangig natürlich auf den persönlichen Schutz von Edgar Lengrien und Werner Martinelli. In seinen Augen war das zwar nicht weniger anspruchsvoll, aber doch oftmals weniger ausfüllend als die strategische Planung, die er stets so genoss. Edgar Lengrien hatte recht – es wäre eine echte Herausforderung, seine Arbeit auch auf andere Projekte und Klienten auszuweiten. Hätte sein derzeitiger Chef ihm dieses Angebot noch vor ein paar Wochen gemacht, hätte er, Finn, wahrscheinlich nicht eine Minute gezögert. Doch jetzt war alles anders, denn jetzt gab es Kira.
Wie er inzwischen wusste, war Kira Lengrien nun ganz nach Deutschland zurückgekehrt. Das bedeutete in erster Linie aber auch, dass sie wieder im Haus ihres Vaters wohnen würde, zumindest sobald ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Finn wusste schon lange, dass sie in der Villa eine eigene Einliegerwohnung besaß. Diese Tatsache machte ihm nun das Leben schwer, denn dort würde er ihr höchstwahrscheinlich ständig über den Weg laufen, wenn er denn Edgars Angebot annähme. Im Augenblick sah die Sache noch anders aus, denn jetzt war er ein normaler Angestellter. Wenn er es nicht mehr aushielt, könnte er gehen, selbst wenn es ihm ganz und gar nicht leichtfiele, den Job bei „Lengrien & Martinelli“ zu kündigen – er würde es tun, um wenigstens wieder zur Ruhe kommen zu können. Sobald er und Edgar aber Geschäftspartner waren und seine eigene Firma ebenfalls in der Lengrien-Villa ihren Sitz hätte, wäre es nicht mehr so einfach, der Tochter seines jetzigen Chefs aus dem Weg zu gehen.
Finn machte sich nichts mehr vor, was seine Gefühle für Kira betraf, warum auch? Er liebte und begehrte sie mit einer Heftigkeit, von der er nicht einmal geahnt hatte, dass er dazu überhaupt fähig war. Aber den Finn Andersen von früher schien es ohnehin nicht mehr zu geben, seit er zum ersten Mal in Kira Lengriens meerblaue Augen geschaut
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