Berthold Beitz (German Edition)
heute: »Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat uns und viele andere da rausgeholt. Er hat mir den Glauben an die Menschen zurückgegeben.«
Anita Lauf (heute: Anita Nirgad): Das Mädchen, das Jurek Rotenberg auf dem Schulhof in Boryslaw so bewundert hat, Nichte der unglücklichen Lizzy Lockspeiser, überlebt mit ihren Eltern und ihrem Onkel Hermann außerhalb von Boryslaw. Mit Hilfe eines Dienstmädchens kommen sie im Haus einer streng katholischen Familie unter, die es als Christenpflicht versteht, den Juden zu helfen. Sie wird ihnen immer dankbar sein, aber sie weiß auch noch, wie die Hausherrin sie beim Brotbacken einmal fragt: »Wo nehmt ihr Juden denn eigentlich das christliche Blut für die Mazze [das jüdische Brot; J. K.] her?« Die halbwüchsige Anita stammelt verwirrt: »Meine Mama nimmt beim Teig kein Blut.« – »Deine Mama nicht«, sagt die Frau begütigend und mit vollem Ernst, »aber viele andere …« Nach Wien zurück gehen sie nicht. Ihr Vater sagt, er wolle in einem Land leben, in dem er sich nicht für seine Existenz rechtfertigen müsse. 1950 wandert die Familie nach Israel aus. Anita Lauf heiratet einen israelischen Diplomaten und hat zwei Töchter. Sie lebt heute in Tel Aviv.
Salek (heute: Bezalel) Linhard überlebt in dem kleinen Waldbunker nahe Boryslaw, in dem sich 19 Menschen zusammendrängen. Sein Vater hat das letzte Geld ausgegeben, um seinen beiden Kindern diesen Platz im Versteck zu kaufen, ehe er selbst ermordet wurde. Doch Saleks Schwester Clara kommt nicht, weil sie ihren Freund nicht zurücklassen will; der Platz, für den sich Jitzhak Linhard geopfert hat, bleibt leer. Salek schreit vor Wut und Verzweiflung. Die Deutschen fassen Clara kurz vor der Ankunft der Roten Armee in Boryslaw und deportieren sie nach Auschwitz. Bei der Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 wiegt sie noch 29 Kilo. Der junge Linhard hat Rache im Herzen. Er will es den Deutschen heimzahlen und tut es, er wird ein harter, junger Soldat unter dem Sowjetstern. Als Rotarmist der 153. Schützendivision ist er 1945 beim Sturm auf die Festung Breslau dabei. Es sind Kämpfe ohne Gnade. Später emigriert er nach Israel und macht dort Karriere bei der Polizei. Salek – neuhebräisch: Bezalel – Linhard wird schließlich Polizeikommandeur der Stadt Ashdot.
1971 liest er in der Zeitung, Herr Berthold Beitz von Krupp aus Essen werde Israel besuchen, da seine Stiftung die Hebräische Universität in Jerusalem unterstützt. Er fragt sich: »Ist das der Mann, dem ich mein Leben verdanke?« Es kommt zu einem bewegenden Treffen. »Er erinnerte sich an mich als einen Jungen mit schönen, lockigen Haaren … und an meinen Vater, mit dem er, so sagte er, sehr interessante Gespräche geführt habe.« Das Ehepaar Beitz bittet Salek, nun Bezalel, Linhard, sie während des Besuchs zu begleiten. Er fährt auch mit ihnen nach Yad Vashem. Bevor Beitz zwei Jahre später dort als »Gerechter unter den Völkern« ausgezeichnet wird, hat auch Salek Linhard den Rechercheuren von Yad Vashem seine Geschichte erzählt.
Jurek (heute: Jerzy) Rotenberg und seine Mutter Anna haben doppeltes Glück. Im November 1943 kommen sie ausgerechnet im Keller eines Boryslawer Hauses unter, das der berüchtigte Wiener Schutzpolizist Heinrich Nemec beschlagnahmt hat. Es gehört einem jüdischen Zahnarzt. Wie manch andere seines Schlages ist auch Nemec gelegentlich auf rohe Weise sentimental – dann ist er so verzückt über die eigene Güte, dass er einige Juden leben lässt, in diesem Falle den Zahnarzt. Er gestattet dem Mann sogar, im Keller des eigenen Hauses ein Versteck für seine Familie einzurichten. Dort kommen nach der »Aktion« im November 1943 kurz auch Jurek und Anna Rotenberg unter: Der Mediziner holt so viele Juden wie möglich in dieses unwahrscheinlichste Versteck in ganz Galizien. So hören sie in ihrem überfüllten Bretterverschlag, wenn der betrunkene Österreicher wieder einen Tobsuchtsanfall hat und seinem unfreiwilligen Gastgeber droht: »Scheißjud, brauchst ned glauben, dass I di übrig lass. Die vorletzte Kugel gehört dir. Du bist Dreck, du betrügst mich. Erzähl kein’ Schmäh. Ich weiß, dass da welche im Keller sind.« Aber er wird nicht nachsehen. Bald flüchten die Rotenbergs, erneut mit Hilfe der Freundin Krystyna, und finden Unterschlupf bei einer polnischen Bauersfrau. Dort halten sie sich versteckt, bis zur Befreiung durch die Rote Armee im August 1944. Über Schlesien und Italien emigrieren
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