Bertrams Hotel
ganzen Haus! Es musste sich wohl bezahlt machen. Das Unmoderne lebte nach einer gewissen Zeit als malerisch wieder auf. Nichts in diesem Haus erinnerte sie an die Wirklichkeit… nun, warum auch? Es waren fünfzig, nein, beinahe schon sechzig Jahre vergangen, seitdem sie hier gewohnt hatte. Und es erschien alles so unwirklich, weil sie selbst an die Gegenwart gewöhnt war. In der Tat, das Ganze eröffnete eine Reihe interessanter Kombinationsmöglichkeiten. Das Milieu und die Menschen… Miss Marples Finger schoben das Strickzeug weiter fort.
»Schlupfwinkel«, sagte sie laut,»… Schlupfwinkel, nehme ich an. Und ziemlich schwer zu finden…«
Lag darin eine Erklärung für das merkwürdige Gefühl der Beklommenheit, das sie gestern Abend gespürt hatte? Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte…
Alle diese älteren Leute – sie hatten eine außerordentliche Ähnlichkeit mit denen, die sich im Bertrams aufhielten, als sie vor fünfzig Jahren hier war. Sie hatten damals einen natürlichen Eindruck gemacht – aber jetzt wirkten sie nicht sehr natürlich. Ältere Leute heute waren nicht wie ältere Leute damals – sie hatten den ängstlichen, gequälten Blick, der häusliche Sorgen verriet, die sie nicht meistern konnten, weil sie zu müde waren; oder sie hasteten von einer Sitzung zur anderen und versuchten, recht geschäftig und tüchtig zu wirken; die Frauen färbten ihr Haar blauschwarz oder trugen Perücken, und ihre Hände waren nicht mehr fein und zart wie Damenhände früher – sie waren rau vom Abwaschen und von den scharfen Reinigungsmitteln…
Miss Marple blickte auf ihre kleine Uhr. Es war halb neun. Zeit fürs Frühstück.
Sie studierte die vom Hotel erteilten Instruktionen – wunderbar großer Druck, sodass man keine Brille aufzusetzen brauchte.
Mahlzeiten konnten per Telefon bestellt werden, indem man den Etagenservice verlangte, oder man konnte auf den Klingelknopf drücken, über dem das Schild »Zimmermädchen« angebracht war.
Miss Marple entschied sich für den Klingelknopf. Es machte sie ganz nervös, wenn sie mit einem anonymen Etagenservice verhandeln sollte.
Alsbald klopfte es an die Tür, und ein Zimmermädchen erschien. Ein echtes Zimmermädchen, wie man sie früher kannte – und gerade deshalb so unecht: Es trug ein gestreiftes, lavendelfarbenes Baumwollkleid und tatsächlich ein Häubchen, ein frisch gewaschenes und gestärktes Häubchen. Ein lächelndes, rosiges, geradezu ländliches Gesicht. Wo fanden sie nur solches Personal?
Miss Marple bestellte ihr Frühstück. Tee, verlorene Eier, frische Brötchen. So gut war das Mädchen geschult, dass es Maisflocken oder Orangensaft nicht einmal erwähnte.
Fünf Minuten später wurde das Frühstück serviert. Es war so gut, als hätte sie es selbst zubereitet. Miss Marple sprach sich dem Zimmermädchen gegenüber anerkennend aus, das lächelnd erwiderte:
»O ja, Madam, der Küchenchef nimmt es sehr genau mit seinem Frühstück.«
Miss Marple beendete ihr Frühstück und erhob sich in aller Ruhe. Sie hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt, nach dem sie diesen wunderbaren Morgen mit Einkäufen verbringen würde. Nicht zu viel – sonst wurde es zu anstrengend. Heute vielleicht nur Oxford Street. Und morgen Knightsbridge. Glücklich schmiedete sie weitere Pläne.
Gegen zehn Uhr tauchte sie aus ihrem Zimmer auf, fertig zum Ausgehen: Hut, Handschuhe, Regenschirm – für alle Fälle, obwohl das Wetter schön war – Handtasche, ihren elegantesten Einkaufsbeutel…
Die übernächste Tür wurde aufgerissen, und jemand blickte heraus. Es war Bess Sedgwick. Sie trat rasch wieder in den Raum zurück und machte die Tür heftig zu.
Miss Marple dachte über diesen Auftritt nach, als sie die Treppe hinunterging. Morgens zog sie die Treppe dem Lift vor. Es lockerte ihre steifen Glieder. Ihre Schritte wurden immer langsamer… sie blieb stehen.
Als Colonel Luscombe aus seinem Zimmer auf den Korridor trat, öffnete sich eine Tür neben der Treppe, und Lady Sedgwick sprach ihn an.
»Na, da bist du ja endlich! Ich habe schon auf dich gelauert. Wo können wir uns unterhalten? Ich meine, ohne jeden Augenblick über irgendeine alte Spinatwachtel zu stolpern.«
»Nun, ich bin nicht ganz sicher, Bess – aber ich glaube, im Zwischengeschoss ist eine Art Schreibzimmer.«
»Du kommst am besten in mein Zimmer. Rasch, ehe das Zimmermädchen uns sieht und auf falsche Gedanken kommt.«
Unwillig trat Colonel Luscombe über die Schwelle, und
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