Beruehrt
Woher wusste er überhaupt ihren Namen? In dem Moment wurde ihr klar, dass sie gerade von Grayson Wolf geküsst worden war. Dem geheimnisumwitterten, gut rasierten Blaubart, vor dem sie alle gewarnt hatten.
Und wie sie sich geküsst hatten. Es hatte sich ziemlich gut angefühlt. Verdammt gut sogar. Verdammt!
Den Rest des Tages erwischte sich Rachel immer wieder dabei, wie sie in ihrer Wohnung bei allen möglichen Verrichtungen innehielt und auf Geräusche von oben lauschte. Doch dort blieb alles still. Genau wie ihr Telefon.
Na ja, warum sollte er sie auch anrufen, wenn er einfach nur die Treppe herunterzukommen brauchte? Außerdem hatte er ja auch ihre Nummer gar nicht. Ob sie ihm die durch den Briefkastenschlitz schieben sollte?
Moment mal, worüber machte sie sich da gerade ernsthaft Gedanken? Sie würde ihm keinesfalls nachlaufen! Nein! Auf gar keinen Fall! Was für ein arroganter, unverschämter, eingebildeter Macho-Arsch! Sie. War. Wütend! Der glaubte wohl, er könnte sie mit seinem bisschen Charme einfach um den kleinen Finger wickeln wie all seine anderen bunten Blümchen. Dieser Kuss war nämlich vor allem eins gewesen: Absolut dreist! Das musste sie sich nur immer und immer wieder vergegenwärtigen.
Blöder Idiot!
Jawohl!
… und wenn er genau deswegen ein schlechtes Gewissen hatte? Dann musste sie ihm doch quasi die Tür öffnen, oder nicht? … Nur einen Spaltbreit … einen winzig kleinen …
Rachel, du spinnst, beendete irgendwann ihr Verstand die Grübeleien und Selbstgespräche. Immerhin.
Bis am nächsten Morgen wieder alles von vorne losging. Am Tag danach ebenso. Und zu allem Übel bekam sie auch noch penetrante Kopfschmerzen.
Schließlich konnte Rachel nicht mehr anders, sie musste einfach jemandem ihr durcheinandergerütteltes Herz ausschütten. Darum klingelte sie eines Morgens bei Kathy und Helen Sturm.
»Was ist dir denn für 'ne Laus über die Leber gelaufen?«, begrüßte Helen sie verschlafen.
»Keine Laus, ein ganzer Wolf, Grayson Wolf, genauer gesagt«, platzte Rachel heraus und schob sich an Helen vorbei ins Apartment.
»Oh, oh. Hab ich’s nicht gesagt? Na, das hat ja nicht lang gedauert. Ich koch uns einen Tee«, verkündete Helen. Die Szene kam Rachel seltsam vertraut vor – nur dass Olivenöl und Aspirin hier nicht zur Entgiftung und Symptombekämpfung taugten.
Einen Liter Tee und fast zwei Tafeln Schokolade später fasste Helen Rachels Schilderung wenig charmant zusammen. »Eingebildeter Arsch. Das ist genau seine Masche. Hab ich’s nicht gesagt? Er will einfach nur eine nach der anderen abschleppen. Alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, betrachtet er als Freiwild. Sein Revier hat er damit markiert. Das war Nötigung.«
»Na ja …« Rachel druckste ein wenig herum, während sie an einem Sofakissen herumzupfte. »Zuerst ganz bestimmt, absolut! … Aber dann hab ich ihn wohl irgendwie zurückgeküsst«, nuschelte sie kaum hörbar. »Und es war echt schön … er kann fantastisch küssen. Und seine Lippen waren so … aber ich bin immer noch voll wütend!«
Helen beobachtete Rachels schwärmerisch verzückten Blick, nahm die leere Teekanne und schlurfte kopfschüttelnd zur Spüle. »Nee, ist klar. Das macht es komplizierter«, kommentierte sie trocken und schaltete erneut den Wasserkocher an.
»Das ist doch nicht alles, was dir dazu einfällt, oder?« Flehend sah Rachel zu ihrer Freundin hinüber. Sie zog die Beine an und umschlang sie mit ihren Armen. In dieser Kauerhaltung kam sie wenigstens nicht an die Schokolade auf dem kleinen Tischchen. Von zu viel bekam man sowieso Pickel.
»Neee«, bestätigte Helen und setzte neuen Tee auf. »Da fehlt noch die Wiederholung meines Spruchs ›Ich hab dich gewarnt!‹ , dicht gefolgt von Kathys ›Hab ich’s nicht gleich gesagt?‹ – wenn sie denn da wäre.«
»Wo steckt sie überhaupt?«, fragte Rachel und nahm doch noch ein winziges Stück Schokolade.
»Ist mit Josh ein paar Tage nach Wales gefahren, Heide gucken. Als ob’s hier nicht genug Heide gäbe.«
»Ach ja, das hatte sie erzählt«, erinnerte sich Rachel zerknirscht. Irgendwie hatte sie zurzeit ein sehr lückenhaftes Gedächtnis, was so einige Dinge betraf. Dafür funktionierte leider die bildhafte Vorstellung von Graysons Augen, seinem Po in der engen Jeans, seinem Duft und dem Geschmack seiner Lippen mehr als hervorragend. Und seine Ausstrahlung. Er hatte irgendetwas Mystisches an sich. Etwas Rätselhaftes. Aufregendes. »Und überhaupt«,
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