Beruehrt
Graysons Hemd. Sie hatte es immer noch an. Kein Wunder, dass ihr sein Geruch nicht aus der Nase weichen wollte. Und geduscht hatte sie auch noch nicht. Sie konzentrierte sich darauf, tief ein- und wieder auszuatmen, gleichmäßig, langsam. Nicht gleich wieder losheulen, ermahnte sie sich. Ihre Augen machten auch so schon dem prächtigsten Albinokaninchen Konkurrenz.
Sie wollte noch gar nicht duschen. Sie mochte diesen Duft, Wut hin oder her. Ein bisschen Moschus, ein bisschen Vanille, ein wenig Aftershave und jede Menge Grayson. Na gut, die Vanillenote stammte wohl eher von dem Eis. Trotzdem musste das Hemd weg!
Zornig zog sie es über den Kopf, zerknüllte es und donnerte es in die nächste Ecke. Danach schnappte sie sich schnaufend ein frisches Shirt und sah aus dem Fenster. Der Tag war viel zu schön, um einsam und allein in der Bude zu hocken. Automatisch griff sie zu ihren Malsachen, um in den Park zu gehen. Rose, Fotoapparat. Kuss. Herrgott noch mal! War denn alles, was ihr normalerweise half, seit Neuestem mit einer Erinnerung an Grayson Wolf verknüpft?
Gereizt griff sie trotzdem nach ihren Farben. Dann war das halt so. Dann würde sie eben leiden und sich erinnern. Auch nur eine schmerzvolle Erinnerung mehr. Also Augen zu und durch.
Im Park steuerte Rachel ganz bewusst die Stelle an, an der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Immerhin hatte sie schon vorher da gesessen und gemalt. Es war ja wohl nicht sein Park!
Wie eine Dampflokomotive stampfte sie um die Rhododendronhecken zum Rosenbusch und prallte fassungslos zurück.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte sie bestürzt.
Humphrey, der Gärtner, kniete vor dem Strauch oder besser, vor dem, was davon noch übrig war. Mit traurigem Gesichtsausdruck drehte er sich zu ihr um. »Ein Tier war das jedenfalls nicht«, sagte er bitter und knipste mit seiner Schere einen der letzten abgeknickten Triebe ab. Auf dem Rasen lagen abgerissene, zerfetzte Blütenblätter und zerquetschte Knospen. »Die machen sich nicht die Mühe, jede einzelne Rose zu köpfen und kaputt zu treten. Ein Reh hätte vielleicht die Triebe abgeknabbert, das sind Feinschmecker, auch nicht schön. Aber das hier, das ist purer Vandalismus. Zerstörungsfreude.« Er schnäuzte sich geräuschvoll in ein erdiges Stofftaschentuch und steckte es umständlich zurück in seine grüne Latzhose.
»Wer tut so etwas Furchtbares?«, fragte Rachel leise und kniete sich neben Humphrey auf den Boden. Behutsam hob sie eins der malträtierten dunklen Köpfchen auf.
»Nimm die Blüten mit«, bot der Gärtner an. »Sie landen sonst einfach nur im Kompost. Das haben sie nicht verdient … das hier hat kein Lebewesen verdient. Wann begreifen Menschen, dass auch Pflanzen eine Seele haben?«
Rachel lächelte verschämt. Sie mochte den schrulligen alten Mann und seine Ansichten über das Leben.
»Man könnte die Blütenblätter in ein Duftkörbchen legen«, überlegte sie halb laut, »und die Köpfchen, die noch heil sind, in eine Schale mit Wasser geben. Das sieht bestimmt hübsch aus.«
Rachel stand auf und half ihm, die Überreste der Verwüstung zusammenzuharken. »Wird er sich erholen, Humphrey?«, fragte sie.
Der alte Gärtner betrachtete den Busch abwägend.
»Schwer zu sagen«, meinte er und sah Rachel aus wässrigen Augen an. »Das ist eine seltene, sehr alte Sorte. Man glaubt oft, die wären so robust. Dabei sind sie sehr sensibel. Aber wenn zwei sich um ihn sorgen, wird ihm das sicher helfen.«
»Ich kümmere mich um ihn«, versprach Rachel nachdenklich. Man könnte glatt meinen, der Gärtner spräche von einem Menschen und nicht von einem Rosenstrauch. Mit seiner Hand, die mit ihren knotigen, krummen Fingern selbst einer Baumwurzel glich, drückte Humphrey kurz ihre Schulter. Dann packte er die Griffe seiner Schubkarre und trug die unwiederbringlich zerstörten Reste der schwarzen Rosen zu Grabe.
Rachel strich bedächtig über die gelichteten Äste des Strauches. »Das wird schon wieder«, tröstete sie. Helen war der alte Gärtner unheimlich, Rachel dagegen fand ihn sehr sympathisch. Menschen, die mit Pflanzen sprachen, waren schwer in Ordnung.
Das Malen musste jetzt erst einmal warten. Rachel schürzte ihr T-Shirt und trug darin eine beträchtliche Anzahl Rosenknospen und Blütenblätter zurück in ihre Wohnung. Sie erreichte den Flur im zweiten Stock, kurz bevor wildes Gerede und lautes Gelächter im Erdgeschoss die Rückkehr ihrer Freunde vom Strand ankündigte. Rachel ertappte sich
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