Beruehrt
allmählich von seiner Euphorie in einen Halbwachzustand heben.
Caleb tanzte aufgekratzt vor ihr die Treppe hinunter, und als sie schließlich auf ihren Rädern die Uni erreicht hatten, hatte der Fahrtwind sie endgültig wach gerüttelt.
»Aber keine Schnulze, ja?«
»Nein!«, versprach Caleb energiegeladen. »Hier, lies es dir durch!«
Unruhig wie ein kleines Kind rutschte er auf einem alten Sessel in dem provisorischen Studio hin und her. Der halbdunkle Raum roch nach Holz und Leder, vermischt mit dem säuerlich-süßen Aroma von abgestandenem Bier und Cola. Er quoll über von Musikinstrumenten und technischem Equipment, war mit Eierpappen an den Wänden gedämmt und Rachel fragte sich, wie viel Rührei dazu wohl durch diverse Musikermägen hatte gepumpt werden müssen.
Sie hielt die Notenblätter unter die Schreibtischlampe über dem Mischpult. Neben der Kerze auf einer alten Teekiste in der Ecke war sie die einzige Lichtquelle. »Hmmm«, meinte sie schließlich. »Ist ganz gut«.
»Ganz gut?« Caleb hopste auf und die Kerze malte flackernde Schatten an die Wände. »Das Lied ist mega! Aber wenn du es nicht singen willst …« Er grapschte nach den Noten, doch Rachel flüchtete quietschend vor ihm um das kleine Mischpult herum. Zum ersten Mal seit Langem lachte sie völlig unbeschwert und ließ es sogar zu, dass er sie einen Moment lang umschlungen hielt, als er sie schließlich gefangen hatte.
»Okay, okay, ich gebe auf. Ich mach es ja«, versprach sie nach Luft schnappend.
»Na, wenn das kein Fortschritt ist«, gab Caleb feixend zurück. Er ließ sie sehr langsam los und griff nach seiner Gitarre. »A-Moll. Ich geb dir den Ton.«
Mithilfe seiner Akkorde tastete sich Rachel langsam durch die Melodie. Inzwischen sang sie ganz gut vom Blatt, aber er hatte ein paar kompliziertere Harmonien und Tonartwechsel eingebaut. »Warum ist die Melodie stellenweise so traurig?«, fragte Rachel.
Caleb zuckte mit den Schultern, legte den Kopf schief und sah ihr in die Augen. »Weil es zu deiner Stimme passt.« Rachel schnitt ihm eine Grimasse.
Das Lied handelte von einem kleinen Mädchen, das nach Luftballons jagt. Und ihrem großen Bruder, der ihr so sehr wünscht, dass die Ballons nicht einer nach dem anderen zerplatzen, sondern weit übers Meer getragen werden. »Wie geht es aus?«, fragte sie.
»Die dritte Strophe fehlt noch«, verriet Caleb. »Hast du eine Idee?«
Rachel überlegte. »Vielleicht kommt jemand übers Meer und bringt ihr einen Luftballon zurück? Gleichzeitig gewinnt sie einen Freund? Für die Playlist im Radio dürfte das genügen, oder?«, scherzte sie.
Caleb sah sie schief von der Seite an. »Ja, damit könnte ich ganz gut leben – bis mir was Besseres einfällt.«
Rachel runzelte die Stirn. »Wir reden übers Lied, oder?«
Caleb grinste breit. »Sind wir in einem Kellerstudio oder was? Los, noch mal und dann können wir's vielleicht schon aufnehmen, probeweise, damit du dich hörst. Das klingt immer etwas anders als über die Kopfhörer.«
»Na hoffentlich«, sagte Rachel inbrünstig. Sie erinnerte sich noch gut an den Schreck, als sie ihre eigene Stimme zum ersten Mal gehört hatte.
Am Anfang hatte es sie enorme Überwindung gekostet, vor Caleb laut zu singen. Mittlerweile funktionierte das ziemlich gut, sie hatte Selbstsicherheit gewonnen und zu ihrer Lockerheit zurückgefunden. Unter den Kopfhörern konnte sie sich ein Stück weit verstecken und das Mikrofon in der Hand gab ihr etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Das Dreißig-Tage-Prinzip von Becky schien zu wirken.
Calebs Kuss auf der Party und der Ausraster im Cove waren kein Thema mehr, auch wenn sie schwören könnte, dass er sie manchmal einen Augenblick zu lang berührte, um ihr etwas zu zeigen, oder nur zögerlich aus einer Abschiedsumarmung entließ. Seine Aufmerksamkeit tat gut. Er schien immer ganz genau zu wissen, wie es ihr ging oder was sie brauchte – als ob er wüsste, was Rachel beim Abschminken ihrer Zimmerpalme verriet.
Mit der Musik und ihren Treffen im Probenraum teilten sie ein Geheimnis, denn die Musik, die Caleb mit seiner Band machte, war ganz anders als das, war er für sie schrieb. Es schmeichelte ihr, und wenn sie ganz, ganz ehrlich war, genoss sie auch die neidischen Blicke der anderen Schlossbewohnerinnen, weil sie so viel Zeit mit Caleb verbrachte. Rachel ertappte sich bei einem Lächeln, als sie daran dachte, dass er diese Songs tatsächlich für sie komponierte, nur damit sie sang. Ganz schön
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