Beruehrt
fischte sie die zerknitterten, durch die Badetücher etwas feucht gewordenen Seiten heraus. Sie stellte fest, dass es eine ganze Seite und zwei weitere Schnipsel waren – der eine ordentlich ausgeschnitten, der andere grob herausgetrennt. Fest stand, dass alle nicht gerade sorgfältig behandelt worden waren. Sie waren vergilbt und eingerissen und stammten offenbar aus unterschiedlichen Quellen: Layout, Schriftgröße und Typen waren völlig verschieden. Rachel griff zuerst zum vielversprechendsten Fundstück. Diese Seite war einmal recht ordentlich ausgeschnitten worden. Sie überflog den Text und machte ein enttäuschtes Gesicht. Wie sie befürchtet hatte, ging es hier um Kleinanzeigen. An- und Verkauf von Musikinstrumenten. Drei Keyboards waren eingekringelt, zwei wieder durchgestrichen worden. Wenn sie nicht alles täuschte, stand das dritte inzwischen im Probenkeller von Calebs Band. »Volltreffer«, murmelte Rachel ironisch, drehte die Seite um und legte unbefriedigt zwei Jahre alte Sonderangebote für Slipeinlagen und Rasierschaum zu den Akten.
Als Nächstes strich sie einen der zerknitterten Fetzen glatt und überflog die Artikel. Miss Murphys Katze war auf einen Baum geklettert und musste von der Feuerwehr gerettet werden. Der Lions Club hatte bei einer Tombola 300 Pfund für Obdachlose gesammelt, ein entlaufener Hund, ein Einbruch in ein Elektrofachgeschäft, bei dem irgendwelcher Überwachungs- und Abhörkram gestohlen worden war, ein Verkehrsunfall, Termine, Gezeitentabelle, Kino, Wetter, Sonnenauf- und Untergänge und eine Warnung vor überfrierender Nässe. Rachel legte das Blatt aus der Hand.
Moment mal! Ihr Blick fiel erneut auf den winzigen Einspalter. »Verkehrsunfall im Morgengrauen. Ursache noch unklar«, murmelte sie. »Zwei Verletzte«. Leider fehlte die Hälfte des Textes, weil die Seite ausgerechnet an dieser Stelle nass geworden war. Aber Rachel konnte immerhin die Worte »Hubschrauber« und »Straße über Stunden gesperrt« entziffern. Und sie hatte ein Datum, oben auf der Seite. Der zwölfte Februar vor zwei Jahren. Ob das mit den Mikrofilmen in der Bibliothek übereinstimmte?
Nervös knetete sie ihre Unterlippe mit den Zähnen. Der letzte Schnipsel war leider ebenfalls unvollständig und sehr klein. Rachel schauderte. Es war die Hälfte einer Todesanzeige. Eine alte Dame, gestorben am fünften März desselben Jahres, wurde von ihren Enkeln betrauert. Rachel atmete erleichtert durch, das passte ja zum Glück nicht zu der ganzen Sache, abgesehen davon, dass die Seiten aus demselben Jahr stammten. Auf der Rückseite allerdings sprang ihr das Geburtsdatum von jemandem entgegen, dessen Name leider fehlte. Die Person war nur ein halbes Jahr älter als sie selbst beziehungsweise – Rachel rechnete die beiden Jahre seit dem Erscheinen der Zeitungen ab – sie war niemals achtzehn geworden, denn sie war an einem fünften März ihren Verletzungen erlegen.
Rachel starrte bewegungsunfähig auf die Zeitungen. Ihr Blick verlor sich ins Leere. Amelias Abschlussbild vom College tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte so fröhlich ausgesehen.
Rachel fror.
Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Als die Sonne unterging, gab sie einem inneren Drang nach, stand auf und packte ihre Farben. Sie hielt sich nicht mit Pinseln oder Spachteln auf, sondern drückte den Inhalt der Tuben direkt in ihre Handflächen und griff tief in die Flasche mit der Strukturcreme. Mit den Fingern und Händen verteilte sie sie direkt auf der Leinwand. Rachel arbeitete wie besessen, wühlte ihre Hände in die kühlen Pasten, ließ sie unter ihren Fingern hervorquellen. Sie wischte und schmierte und gab irgendwann schweißgebadet auf. Es war, als ob sie Wackelpudding packen und zu Härte zwingen wollte. Je intensiver Rachel sie halten und fühlen wollte, desto mehr glitt die Masse zwischen ihren Fingern hindurch und entzog sich der Form.
Deprimiert gab sie den Versuch auf, die gebannten Gestalten aus dem Zweidimensionalen herauszuholen, anzufassen und in die Materie zu drängen, lebendig zu machen, was sie doch nur im Ansatz abbilden konnte. Sie war kurz davor, den Keilrahmen, so wie er war, aus dem Balkonfenster zu werfen, schnaufte dann aber tief durch und drehte die Leinwand mit dem Gesicht zur Wand. Wieder ein Bild, das sie nicht ansehen wollte.
10
R achel wachte mit Kopfschmerzen auf und realisierte langsam, dass zumindest ein Teil des penetranten Klingelns nicht in ihrem Kopf stattfand, sondern vom Telefon
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