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Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)

Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)

Titel: Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marnie Schaefers
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großen Kulleraugen ansah und deren Barthaare schnuppernd zuckten, erübrigte sich diese Frage – wenn ich hier auch zuvor nie einen der Nager bemerkt hatte.
    Ich schob diese Tatsache auf das Wetter, denn schon seit heute Morgen regnete es ohne Unterlass. Daher hatte ich den Kragen meines Flickenmantels hochgeschlagen und eine passende altmodische Mütze dazu aufgesetzt.
    Als die Haltestelle im schummerigen Licht einer Laterne auf der anderen Straßenseite vor mir auftauchte, beschleunigte ich meine Schritte. Ich hatte es nie mit der Pünktlichkeit gehabt, aber heute schien sich auch mein Schatten verspätet zu haben.
    Eine Frau mittleren Alters in einem beigefarbenen Anorak setzte sich soeben auf eine der blau gestrichenen Bänke unter dem Unterstand und schüttelte den schwarzen Regenschirm aus. Sie bemerkte mich und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
    Ich legte die letzten Meter bis zur Haltestelle zurück und machte eine Verbeugung vor ihr . »Ah, Adrian«, sie untersuchte neugierig mein Gesicht ob etwaiger Altersanzeichen, die sie zufrieden in Form einiger Falten um meine Augen und Mundwinkel registrierte. Hätte ich keine Mütze getragen, hätte sie sich zusätzlich an einigen grauen Strähnen in meinem sonst dunkelbraunen Haar erfreuen können.
    Hier zu sei gesagt, dass wir heute ausnahmsweise etwa im gleichen Alter unterwegs waren. Normalerweise bevorzugt sie es, als ältere Dame aufzutreten, während ich mich für gewöhnlich im Alter nicht über die dreißig hinauswage. Unsere äußere Erscheinung ist voneinander abhängig, da wir uns die Beobachtungsobjekte teilen.
    Um dies kurz klarzustellen: Über die Jahre hinweg können wir uns durch das Beobachten anderer Menschen die Jugend bewahren. Wir beginnen immerzu gemeinsam mit unseren Schützlingen ein neues Leben. Demnach obliegen wir nicht der Vergänglichkeit. Es ist, als würden wir mit jedem neuen Menschen, den wir erwählen, wiedergeboren. Als würden wir die Erinnerungen, die Eindrücke und Gefühle unserer Schützlinge atmen, um weiter zu leben, denn nur sie schenken uns die Ewigkeit und retten unseren Körper vor dem Zerfall.
    Je mehr Schützlinge sich jemand erwählt, desto jünger wird sein Abbild.
    Mein Schatten und ich hatten uns nach dem Abschluss ihrer Ausbildung dafür entschieden, zusammen zu bleiben, da uns die Einsamkeit, die unseresgleichen normalerweise ertragen muss, zuwider war. Daher teilen wir uns nicht nur unsere Schützlinge, sondern auch deren seelische Essenz.
    So ist unser Aussehen durch das des jeweils anderen bedingt. Doch glücklicherweise ergänzen wir uns in dieser Hinsicht ausgesprochen gut. Eigentlich ergänzen wir uns in jeder Hinsicht gut, ansonsten hätten wir es wohl nicht so lange miteinander ausgehalten.
    » Myriam, du siehst gut aus«, erwiderte ich neckisch.
    » Tja.« Schnippisch fuhr sie sich durch das rote Haar, das mich jedes Mal, wenn sie in ihrer jüngeren Erscheinung vor mir steht, an Aimee erinnert.
    Die Hände in den Manteltaschen vergraben blieb ich vor ihr stehen . »Wird sie kommen?«
    Myriam zuckte nur mit den Schultern.
    Ich hoffte inständig, dass die Unterhaltung, die wir zu führen gedachten, erfolgreich sein würde. Es hing so viel davon ab.
    Es dauerte mehrere stille Minuten, bis wir die klingelnden Glöckchen und die Pferdehufe der nahenden Rayne vernahmen. Myriam stand auf und spähte der mit Laternen behangenen Kutsche entgegen . »Bei diesem Wetter möchte ich auch kein Kutschfahrer sein.«
    Eine vermummte Gestalt saß in einen weiten Umhang gehüllt auf dem Bock und ließ die Pferde mürrisch anhalten. Wir zeigten kurz unsere Fahrscheine, dann stiegen wir ein.
    Wie gewöhnlich war die Rayne um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter nur spärlich besucht. Die wenigen Gestalten, die uns kurz beäugten, waren nicht der Rede wert und dürften keine Unannehmlichkeiten bereiten. Keiner von ihnen wusste, was wir waren.
    Mein Schatten setzte sich auf eine der gepolsterten Sitzbänke und betrachtete die vorüber ziehenden Häuserzeilen, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen waren. Prasselnd fuhr der Regen aufs Kutschdach nieder und die Tropfen perlten Tränen gleich an der Scheibe hinunter . »Sie wird kommen«, sagte sie plötzlich. »Wenn sie auch eine Schlange ist, so hat sie immer noch das gleiche Anliegen wie wir.«
    Reflexartig sah ich zu den anderen Fahrgästen hinüber, aber niemand schien bei dem Wort >Schlange< skeptisch aufgehorcht zu haben. Man konnte nie vorsichtig genug

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