Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
doch jeder Ort gleich. Es war nur eine Maske, die Lhapata von all den anderen Städten unterschied. Anblicke wie diesen fand man überall auf der Welt. In modernen Großstädten wie dieser und in Gefängnissen wie Ral’is Dosht.
»Tja.«
» Was hast du?«
Sie schenkte der jungen Frau ein Schulternzucken und ging an ihr vorbei.
»Yve!«
Die Erinnerung an Ral’is Dosht kam unerwartet wie ein bitterer Nachgeschmack. War es nicht immer ihr Traum gewesen, dieser Stadt zu entkommen? Doch jetzt, da sie es geschafft hatte, kehrten ihre Gedanken und Träume viel zu oft dorthin zurück. Es war, als würde all dies niemals wirklich Vergangenheit werden. Sie gehörte an diesen unseligen Ort, so sehr er ihr auch verhasst war. Es war kein Heimweh, nein, das mit Sicherheit nicht. Es war ein unbestimmtes Gefühl, das ihr sagte, dass etwas in ihrem Leben fehlte, etwas, das sie dort zurückgelassen hatte.
» Wir haben schon viel zu lange nicht mehr geredet.« Crevi holte sie ein und gab sich sichtlich Mühe auf ihrer Höhe zu bleiben. »Es tut mir leid.«
» Was tut dir leid?«
»Das alles!« Sie breitete die Arme aus. »Ich weiß nicht, was los ist, Yve. Aber was es auch ist, es tut mir leid.«
Yve kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Weißt du, dass du manchmal wirklich merkwürdig sein kannst?«
» Tut mir leid.«
Gegen ihren Willen musste sie lachen . »Okay, schon in Ordnung. Solange du das nicht noch einmal sagst.« Ihre Schritte verlangsamten sich. »Worüber möchtest du reden?«
» Ich weiß nicht. Weißt du, wo wir her müssen?«
Etwas unschlüssig sah sich die junge Frau um.
»Immer der Nase nach.«
» Nein, im Ernst.«
» Wir werden den Weg schon finden.« Yve lächelte ihrer Begleiterin aufmunternd zu.
Ohne noch etwas zu sagen, liefen sie aufs Geratewohl weiter, bis sie an einer Ecke strandeten, die mit dem wenig freundlichen Namen Ratteneck versehen war. »Ah. Jetzt finden wir den Weg«, stellte Yve fest und schloss ihre Finger um diejenigen ihrer Begleiterin.
Hand in Hand, wie es zwei Freundinnen zu tun pflegen, bogen sie in die Raleehen-Straße ein.
Die Kälte, die zwischen ihnen entstanden war, schien wie fortgefegt.
»Wie fühlst du dich?«, flüsterte Crevi in vertraulichem Ton dicht neben ihr. Die Sorge war ihrer Stimme anzuhören. Gleich bekam Yve ein schlechtes Gewissen, das sie ihr nicht längst erzählt hatte, was sie beschäftigte. Crevi hat so Recht. Wir haben viel zu lange nicht mehr ausgiebig geredet. Es war ein neues Gefühl zu merken, dass das, was zwischen ihnen entstanden war, gepflegt werden wollte.
» Ich muss ständig an ihn denken«, offenbarte sie ihr leise die Wahrheit, woraufhin sie sich reflexartig versicherte, dass sie allein waren.
» An wen?«
» Reird.« Sie musste schlucken.
» Du vermisst ihn.«
» So sehr«, flüsterte Yve.
Allein der Gedanke reichte aus, dass sich ihr hungriges Herz schmerzhaft zusammenzog, sie sich nach ihm verzehrte. Er war stets an ihrer Seite gewesen . »Nie habe ich erkannt, was er mir bedeutet«, fügte sie hinzu.
» Solange er da war, war alles irgendwie einfach«, überlegte sie. »Aber jetzt? Jetzt, da er fort ist, ist mit einem Mal alles so kompliziert.«
Es war ihr, als täten sich Abgründe auf, wo vorher sicherer Boden gewesen war . Reird hatte sicheren Halt in ihrem Leben bedeutet. Wo er sie vorher festgehalten hatte, war nun nur gähnende Leere, in die sie kopfüber stürzte.
» Er wird auf dich warten«, meinte Crevi mitfühlend. »Er hat gesagt, er würde dich nicht vergessen.«
» Ich weiß. Aber…« Verzweifelt verstärkte sich ihr Händedruck, was sie, als sie es bemerkte, mit einem verlegenen Blick zu überspielen suchte. »Weißt du, was mich am meisten verwirrt? Ich wollte nie etwas anderes, als diese Höllenstadt hinter mir zu lassen! Habe ich jetzt nicht alles, was ich immer wollte? Mir war nie, als bräuchte ich jemanden, der meine Welt zusammenhält.«
» Du liebst ihn«, sagte Crevi nur, als wäre dies Erklärung genug.
Sie verließen die Raleehen-Straße und gelangten an eine steinerne Brücke, die sich Ehrfurcht gebietend über den Vard spannte, der die Stadt durchfloss .
Dieser lag dunkel, einsam und verlassen dort. Ebenso, wie Yve sich fühlte.
Tröstend wollte Crevi Yve eine Hand auf die Schulter legen, als diese vor ihr zurückschreckte. Hinter Crevi in den Schatten glaubte Yve etwas vorbeihuschen gesehen zu haben.
» Da war etwas!«, murmelte sie.
Crevi sah sich aufgeregt um und spähte in die
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