Beseelt
Heute Nacht war die Geschichte von Brennas tragischem Schicksal noch zu frisch in ihrem Kopf und die Burg, die sie umfing, zu sehr mit Geistern der Vergangenheit erfüllt.
Sie schlief ein in der Hoffnung, dass das Glück, welches Brenna zum Ende ihres Lebens gefunden hatte, die Schmerzen und Tragödien ihrer Jugend einigermaßen wiedergutgemacht hatte.
Zu Anfang merkte Brighid gar nicht, dass sie träumte. Sie war einfach nur froh, zurück auf der MacCallan-Burg zu sein. Zu Hause! Alles war herzzerreißend echt. Es war früh am Tag, die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, und der Haupthof lag verlassen da. Die Brunnenstatue der berühmten Vorfahrin der MacCallans, Rhiannon, goss melodisch plätscherndes Wasser in ein Marmorbecken, um das Bänke und Farne standen. Die Decke über dem Hof – gerade erst von eigener Hand der Mitglieder des Clans wiederhergestellt – war teilweise offen, sodass das milde Licht sich harmonisch mit dem Schein der Fackeln an den Wänden mischte und alles in weiches Rosa tauchte.
Der Anblick war ihr vertraut und teuer. Normalerweise wachte sie vor allen anderen Burgbewohnern auf, frühstückte schnell und brach zur Jagd auf. Sie lächelte bei der Musterung der mächtigen Marmorsäulen auf dem Innenhof und bestaunte aufs Neue die kunstvollen Knotenmuster, die sich wie ein Netz um die Statue der steigenden MacCallan-Stute und die sie umgebenden Waldtiere zogen. Aus Gewohnheit wählte sie den Weg durch das geräumige Herz der Burg zum Haupthof.
Der verlockende Geruch von frisch gebackenem Brot wehte aus der Halle, die sowohl als Speisesaal als auch als Versammlungsraum diente. Um diese Zeit herrschte in der Großen Halle normalerweise kein Betrieb – im Gegensatz zur Küche. Brighid war es gewohnt, alleine zu frühstücken. Sie genoss die Ruhe und die Chance, ihre Gedanken für die bevorstehende Jagd zu ordnen. So war sie überrascht, als sie vom Haupthof durch die Wand aus facettiertem Glas in die Große Halle schaute und dort schon jemanden sitzen sah. Womöglich eine der Köchinnen, die eine Pause machte. Das war in Ordnung, sie mochte das Küchenpersonal und hatte nichts gegen dessen Gesellschaft.
Sie betrat den Raum und blieb erschrocken stehen. Brenna saß an ihrem üblichen Platz am Haupttisch aus glattem Kiefernholz. Brighid verspürte den Drang zu blinzeln und sich die Augen zu reiben, aber es gab keinen Zweifel – es war die Heilerin. Das dicke dunkle Haar hing ihr ins Gesicht und verbarg einen Teil der Narben, die sich über Stirn, Wange, Hals und die gesamte rechte Seite ihres Körpers zogen.
„Ich träume“, platzte sie heraus.
„Das tust du, meine Freundin.“
Brenna schaute auf und lächelte. Brighids Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Das geliebte, leicht schiefe Lächeln! Tränen stiegen ihr in die Augen, liefen über und rannen über ihre Wangen.
„Oh Brighid, nein! Bitte nicht weinen.“
Brighid wischte sich schnell übers Gesicht. „Es tut mir leid, Brenna. Ich hatte nicht erwartet … Mir war bis eben nicht einmal bewusst, dass ich träume. Du fehlst mir so sehr.“
„Du mir auch, Brighid.“
Die Jägerin wischte sich erneut übers Gesicht und atmete tief durch, dann näherte sie sich der Seele der kleinen Heilerin. Brenna sah noch genauso aus wie früher! So lebendig! Brighid schüttelte sich mental. Brenna war lebendig – sie lebte lediglich in ihre Seele anstatt in ihrem Körper.
„Keine Tränen mehr?“, fragte Brenna.
„Keine Tränen mehr.“
„Gut. Unsere Zeit ist zu kurz, um sie zu verschwenden.“ Brenna seufzte und ließ den Blick sehnsüchtig durch die Große Halle schweifen. „Es ist so schön geworden – genau, wie ich es mir vorgestellt habe, als Elphame uns von ihren Plänen erzählte.“
„Du warst nicht …“ Brighid zögerte, unsicher, wie sie die Frage formulieren sollte. „Du bist nicht hier gewesen, seit …“ Sie verstummte.
„Du meinst, ich habe die Burg der MacCallans nicht heimgesucht?“ Brenna lachte, ein scheues, süßes Geräusch. „Nein. Heute Nacht ist etwas Besonderes. Ich verspürte den Drang, hierherzukommen … mit dir zu reden …“
In ihre Augen schlich sich ein verträumter Ausdruck, als könnte sie durch die Steinwände hindurch etwas Wunderschönes sehen. Dann lachte sie wieder und richtete den Blick auf sie, ihre Freundin.
„Die MacCallan-Burg hat bereits einen Geist. Sie braucht nicht noch einen.“
„Ich wusste nicht, dass die Anzahl an Geistern pro Burg begrenzt ist“, sagte
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