Besessen
auflösen konnte. „Wie geht es dir?“
„Total vollgepumpt“, sagte er und lachte dabei leise, als wäre er beschwipst. „Ich habe dich auch vermisst.“
„Zumindest klingst du viel besser als bei unserem letzten Treffen.“ Ich versuchte, etwas Humor in diesen Satz zu legen, was mir allerdings gründlich misslang.
Auf dem Bett rührte sich nichts. Kurz fragte ich mich, ob Nathan eingeschlafen war. Dann sagte er sehr leise: „Habe ich dich verletzt? Ich erinnere mich an nichts.“
Abrupt zerrte er mit aller Kraft an seinen Fesseln – natürlichdie Handschellen, was sonst? – und brüllte in der schrecklichen Sprache, die er auch in der Nacht gesprochen hatte, als er von dem Fluch in Besitz genommen wurde. Er beendete seinen wütenden Wortschwall mit einem geknurrten: „Lass mich hoch!“
„Das kann ich nicht, Nathan.“ Ich wollte mit fester Stimme sprechen, konnte aber ein Zittern nicht verhindern. Auch meine Hände zitterten, als ich näher an das Bett herantrat. Nur mit den Fingerspitzen berührte ich seinen Oberkörper.
Fast augenblicklich sank er auf das Bett zurück. „Carrie?“
Nach allem, was ich im Leben erlitten hatte, den Tod meiner Eltern, den Liebeskummer nach gescheiterten Beziehungen, die körperlichen Schmerzen, als mir wörtlich das Herz ausgerissen wurde – nie hatte mir etwas so weh getan wie der Anblick meines Schöpfers, der gegen einen unsichtbaren Feind kämpfte.
Seine Hilflosigkeit nahm mir alle meine Ängste. „Ich bin es.“
„Lass mich nicht allein“, bat er und riss panisch an den Fesseln um seine Handgelenke.
„Das werde ich nicht.“ Ich legte mich neben ihn auf das Bett, dort wo zwischen seinem Körper und dem Ende der Matratze noch ein schmaler Platz für mich war. „Ich lasse dich nicht allein, Nathan.“
Als ich meinen Körper an ihn schmiegte und einen Arm um ihn legte, entspannte er sich noch mehr. Trotz der Dunkelheit sah ich, dass sich etwas in seinen Augen veränderte. Sie waren immer noch glasig von dem Kräuterauszug, den die Werwölfin ihm gegeben hatte, aber nun konnte ich ihn darin erkennen.
Mit einem Fuß tastete er sich unter den Decken hervor und schlang ihn um meinen Knöchel. „Ich habe alles kaputt gemacht, oder?“
„Nein“, versicherte ich ihm und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Wir bringen das alles wieder in Ordnung.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich meine, mit dir.“
Nur schwer konnte ich die Tränen zurückhalten, aber zumindest sollte er sie nicht sehen. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Seite. „Ich habe keine Angst vor dir, Nathan. Du hast mich nie verletzt.“
„Du warst meine zweite Chance“, sagte er schläfrig. „Und ich habe es verbockt.“
Weil ich es ihm versprochen hatte, blieb ich bei ihm, aber auch, weil ich ihn berühren musste, um mich davon zu überzeugen, dass er wirklich, körperlich und geistig, da war. Meine Anwesenheit schien die Bestie zurückzuhalten, und zumindest konnte er so ein wenig zur Ruhe kommen.
Doch seine Worte gingen mir im Kopf herum. Du warst meine zweite Chance.
Ich wollte keine verstecke Bedeutung in die Worte hineininterpretieren, aber wie bei den meisten Dingen, waren das, was ich wollte, und das, was ich bekam, zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel.
War ich seine zweite Chance in der Liebe? Das klang furchtbar kitschig, wie der Titel eines Liebesfilms am Freitagabend im Fernsehen. Seine zweite Chance auf eine Beziehung mit jemandem, den er am Ende nicht umbrachte? Das wollte ich doch hoffen.
Oder bezogen sich die Worte etwa gar nicht auf mich? Nathan war mit Betäubungsmitteln ruhiggestellt und besessen, manchmal war er bei Sinnen, dann wieder nicht. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mit irgendeinemDämonen in einer anderen Dimension gesprochen hatte?
Oder in dieser? Ängstlich schaute ich mich in dem dunklen Zimmer um, dann schlug ich mir den Gedanken aus dem Kopf. Ich war zu alt, um vor der Dunkelheit Angst zu haben, insbesondere, da meine eine Hälfte furchtbare Angst vor dem Licht hatte.
Nun, vielleicht nicht ganz die Hälfte. Es gab noch Raum für Schuldgefühle. Ich hatte sie zwei Jahre lang nicht an mich herangelassen. Warum wurde ich jetzt bei jeder Gelegenheit von ihnen überwältigt, wie von plötzlich hereinbrechenden Hagelschauern. Ich wollte mich nicht immer schuldig fühlen müssen. Ich fragte mich, wie Nathan damit leben konnte.
Dann wurde es mir schlagartig klar. Es war so offensichtlich und gleichzeitig so absurd wie
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