Besessene
Pfarrer … und er ist allein.«
Wir beobachteten, wie die schlanke Gestalt des Pfarrers die Einfahrt hinunterging und dort, wo die Straße eine Kurve machte, aus unserem Blickfeld verschwand. Ich wusste ganz genau, was Luke als Nächstes vorhatte, und mein Herzschlag setzte einen Moment lang aus. »Er kann … er kann doch jeden Augenblick zurückkommen.«
Luke zog die Autoschlüssel aus dem Zündschloss und öffnete die Wagentür. »Ich denke eher, er wird jetzt eine Weile weg sein, Kat. Er war doch richtig eingemummt, mit Mantel, Schal und Hut.«
Ich blieb auf dem Beifahrersitz sitzen, senkte den Kopf und klemmte die Hände zwischen die Knie. »Ich glaub, ich kann das nicht.«
Luke kam zu meiner Wagenseite herüber und zog erst sehr behutsam meine Füße, dann mich ganz heraus. »Was kann uns schon passieren, Katy? Sie können uns die Tür vor der Nase zuknallen oder der Pfarrer kommt zurück und rastet aus. Wir tun doch nichts Verbotenes und außerdem ärgerst du dich hinterher halb tot, wenn du jetzt aufgibst.«
Luke hatte recht, wie immer. Ich würde es mir nicht verzeihenkönnen, wenn ich jetzt kehrtmachte, ohne dass wir etwas herausgefunden hatten. »Ja … stimmt. Also gut, ich komme mit.«
Eine beruhigende Hand schob sich unter meinen Arm. »Um es mit Genevieve aufzunehmen, braucht man sehr viel mehr Mut als für diese Sache hier.«
Ich warf Luke ein dankbares Lächeln zu, weil er immer wieder die richtigen Worte fand. Dann holte ich tief Luft und es gelang mir auch, am Tor vorbeizugehen, doch der Weg zum Pfarrhaus kam mir jetzt doppelt so lang vor und meine Schuhe knirschten auf den Kieselsteinen. Um mich ein wenig abzulenken, sah ich in den Himmel hinauf, wo gerade die Abenddämmerung einsetzte – ein schwarzvioletter Bluterguss verwischte langsam die rosaroten und weißen Töne und den Hauch von Taubenblau. Dann standen wir vor der roten Eingangstür, die ein Fenster aus farbigem Glas hatte und deren Lack schon abblätterte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wir hatten die Wahl zwischen einem Türklopfer aus Messing und einer altmodischen Glocke mit einem Zugseil daran. Luke zögerte und ich wusste, jetzt kam der gruseligste Teil: diese kurzen Momente auf der Türschwelle, in denen man sich nicht sicher war, wer einem öffnen würde und was man dann sagen sollte. Doch wir mussten weder Türklopfer noch Glocke benutzen, denn die Tür ging plötzlich von selbst auf.
»Ich … ich weiß, warum Sie hier sind«, stammelte die Frau, die uns geöffnet hatte. »Mein … Mann hat Sie beschrieben und ich hab Sie schon vom Fenster aus gesehen.«
Es war eine kleine Frau und ihr zerzaustes graues Haarund die verschreckten Augen, die zwischen Luke und mir hin- und herhuschten, verliehen ihr ein vogelartiges Aussehen.
Luke machte einen Schritt auf sie zu. »Wir kommen von weit her. Es tut mir leid, dass wir so aufdringlich sind, aber es ist sehr wichtig.«
Die Frau zog sich noch weiter in den Eingang zurück und hielt sich am Türrahmen fest. »Ich kann Ihnen nichts sagen … bitte lassen Sie mich … lassen Sie uns zufrieden.«
»Lass es mich versuchen«, flüsterte ich, denn jetzt war meine Angst verflogen. Luke hatte recht: Das Einzige, was mir wirklich Angst einflößte, war die Tatsache, dass ich nicht wusste, warum Genevieve mich derartig hasste und zerstören wollte. Ich sah die Frau an und versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ich weiß nicht, was ich ihr getan habe, aber … seit … Grace in unsere Stadt gezogen ist, scheut sie keine Mühe, mir das Leben schwer zu machen. Ich muss wissen, warum sie das tut, sonst halte ich es nicht mehr aus. Bitte helfen Sie mir doch.«
Die Pfarrersfrau verschränkte die Hände ineinander, als ob sie beten wollte, und auf ihrem Gesicht zeigten sich die widersprüchlichsten Gefühle. Schließlich spähte sie in den Garten hinaus und sagte schnell: »Dann folgen Sie mir. Aber wenn mein Mann zurückkommt, müssen Sie das Haus sofort durch die Küchentür verlassen. Das hintere Gartentor ist zugesperrt, aber im Zaun ist ein Loch, da kommen Sie problemlos durch.«
Sie ging uns durch die große Diele voraus, in deren Boden blaue und terrakottafarbene Fliesen eingelassen waren. Gegenüber der Eingangstür stand eine alte Standuhrund auf der linken Seite führte eine Wendeltreppe aus Eiche mit knorrigem Holzgeländer und verschnörkelten Spindeln ins obere Stockwerk. Überall muffelte es nach regenfeuchtem Laub. Meine Haut fühlte
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