Besser verhandeln - Das Trainingsbuch
krankhafte Gefühl loszuwerden, das mich so sehr quälte. Es half aber nichts. Wenn sich überhaupt etwas geändert hatte, so war es bloß, daß ich mich noch elender fühlte.
Am frühen Morgen hatten mich die Kisten und Koffer, die in den bereits fremdgewordenen Zimmern herumstanden, an das Schreckliche erinnert: heute ist Umzugstag. Ich hatte mein Zimmer verlassen, ohne einen Blick zurückzuwerfen, und Rexie folgte mir dicht auf dem Fuß. Ich wollte alles vergessen -vergessen, daß ich je kindisch genug war zu glauben, es sei in Wirklichkeit mein Haus. Ich war jetzt alt genug, um zu wissen, daß das Geschichten sind, die man kleinen Kindern erzählt.
Plötzlich flutete das Tageslicht wieder durch den Zug. Ich sah aus dem Fenster: wir befanden uns auf der Manhattan Bridge. An der nächsten Station, Canal Street, mußte ich aussteigen und in den Broadway-Brooklyn-Zug umsteigen. Der Zug fuhr wieder durch einen Tunnel, und gleich darauf öffneten sich die Türen. Ich mußte zwar ein paar Minuten auf den anderen Zug warten, aber es war erst ein Viertel vor vier, als ich an der Kreuzung der Essex und Delancey Avenue auf die Straße hinaustrat.
Ich befand mich wie in einer andern Welt. Die Straßen waren dicht gedrängt mit Menschen, die ruhelos hin und her gingen und sich in den verschiedensten Sprachen unterhielten. Dann gab es Straßenverkäufer mit Handkarren und Hausierer, die in ihren kleinen Buden an den Straßenecken schreiend ihre Waren anpriesen, jederzeit bereit, sie wieder abzuräumen und sich davonzumachen, wenn die Polizisten ihnen befahlen weiterzugehen. Es war kalt, aber viele Männer gingen ohne Hut und Mantel, und die Frauen hatten oftmals bloß einen Schal über die Schultern geworfen. Überall umgab mich die stumme Sprache der Armut. Außer von Kindern hörte man wenig Lachen auf der Straße, und selbst die Kleinen waren zurückhaltend in ihren Freudenausbrüchen.
Ich ging die Delancey Street entlang, vorbei an billigen Geschäften mit geschmacklosen Waren, am Lichtspieltheater, vor dem eine große Reklametafel noch immer eine Matinee für Frühaufsteher zum Eintrittspreis von zehn Cent ankündigte. Ich wandte mich nach links in die Clinton Street und wanderte gesenkten Hauptes die beiden Häuserblocks bis zur Stanton Street weiter. Ich wollte mich nicht umschauen. Das grauenhafte Gefühl in meiner Magengrube wurde die ganze Zeit über
beständig ärger, bis ich fühlte, daß es mir bis in die Kehle stieg.
Plötzlich blickte ich auf. Da war es: ein altes graues Haus mit trüben schmalen Fenstern, das sich fünf Stock hoch gegen den Himmel erhob. Einige Stufen führten zur Eingangstüre. Zu beiden Seiten waren Geschäfte, das eine eine Schneiderwerkstatt mit düsteren staubbedeckten Fenstern, das andre stand leer.
Langsam, widerwillig stieg ich die Stufen hinauf. Oben drehte ich mich nochmals um und sah auf die Straße. Hier also sollten wir leben! Eine Frau kam aus dem Haus und drängte sich an mir vorbei, um die Stufen hinabzugelangen. Knoblauchgeruch strömte von ihr aus. Ich sah, wie sie die Straße überquerte und auf einen der Handwagen zuging, dort stehenblieb und mit dem Hausierer zu feilschen begann.
Ich drehte mich um und betrat das Haus. Der Eingang war finster, und ich stolperte über etwas, das am Boden lag. Mit einem gemurmelten Fluch bückte ich mich, um es aufzuheben. Es war eine mit Abfi'llen gefüllte Papiertüte. Ich ließ sie rasch wieder dorthin fallen, wo ich sie gefunden hatte, und begann die Treppe emporzusteigen.
Drei Treppen hoch, und auf jedem Treppenabsatz sah ich eine Papiertüte vor der Türe stehen, die so lange dort blieb, bis der Hausbesorger sie abholte. Schwerer Küchengeruch hing in der abgestandenen kalten Luft des Treppenhauses. Ich erkannte unsre Wohnung an den Koffern, die auf dem Treppenabsatz neben der Türe standen. Ich klopfte.
Mama öffnete die Türe. Wir standen einen Moment regungslos und sahen einander bloß an, dann betrat ich schweigend die Wohnung. Mein Vater saß am Tisch. Ich hörte die Stimme von Mimi, die sich in einem der Vorderzimmer aufhielt.
Ich blieb in der Küche stehen. Die Wände waren mit einer seltsam stumpfweißen Farbe übertüncht, die erfolglos versuchte, die darunter befindliche Schmutzschicht zu verdecken. Die hellgelben Vorhänge, die Mama bereits an dem kleinen Fenster neben dem Tisch angebracht hatte, gaben dem Raum einen gewaltsam heiteren Anstrich.
Sie sah mich besorgt an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In
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