Besser
vermischen kann mit dem Geträumten und dem Ersehnten, und wo das, was man sich wünscht, gleichberechtigt koexistiert mit dem, das man bekommen hat. Vielleicht fühlt sich das Sterben so an. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich dieses Gefühl oder die Erinnerung daran noch immer festhalten will.
Und schon bin ich wach und das Gefühl ist ruiniert, meistens abgelöst von Verlust- und Versagensängsten, von der Gewissheit, dass nichts sicher ist und dass ich meine Familie, meine Kinder nicht beschützen kann, dass ich sie jeden Tag im Stich lasse, dass ich sie nicht genug liebe und ihnen keine gute Mutter bin. Gar nicht sein kann. Dass ich sie Risiken aussetze, die ich nicht richtig einschätze, und dass ich Gefahren ins Haus und in unser Leben lasse, die ich nicht mehr kontrollieren werde können, irgendwann, bald, vielleicht schon morgen, und ich werde alles ruinieren und verlieren. Durch meine Nachlässigkeit, durch meinen Eigensinn und meinen Egoismus, durch mein Unvermögen, wäre nicht Juri letztes Jahr beinahe gestorben? Eigentlich müsste er tot sein, weil ich so ein schlechter Mensch bin und so eine schlechte Mutter. So eine schlechte Autofahrerin und so eine unvorsichtige Fußgängerin, erst gestern wäre mir Elena ums Haar mit dem Roller in ein Auto gerast, ich habe nicht aufgepasst und konnte sie erst im allerletzten Moment an der Jacke zurückreißen. Ich habe schrecklich geschimpft, und es war gemein, denn es war meine Schuld, meine Schuld, meine Schuld, ich hatte nicht aufgepasst, nicht Stopp gerufen, sie könnte tot sein, und der Rest von uns könnte jetzt weinend und schlaflos im Wohnzimmer sitzen, ohne Elena, ohne die für immer tote Elena. Merkwürdigerweise ist es manchmal das sichere Gefühl, dass so etwas passieren wird, unweigerlich, unvermeidlich passieren wird, das mich wieder einschlafen lässt. Der sichere Tod, das sichere Unglück: auch eine Sicherheit.
Aber manchmal beruhige ich mich. Ich beruhige mich, weil ich Adam neben mir fühle, seinen Atem höre, das Leben, das durch seine Brust pumpt, regelmäßig, zuverlässig. Dass er da ist, dass er neben mir liegt: Das beweist, dass es vielleicht eine Chance gibt. Dass vielleicht nicht passiert, was passieren könnte und mit Garantie passieren würde, wenn Adam nicht da wäre, wenn ich noch allein, wenn ich noch wie früher wäre. Es sind die alten Filme in meinem Kopf, die mich beruhigen, die Gewissheit, dass sie Vergangenheit sind, Erinnerung. Die Erinnerung, die richtige Erinnerung ist mein Mantra. Ich muss mich auf die richtigen Erinnerungen an früher konzentrieren, oder besser, auf die Erinnerung daran, wie das Früher zum Jetzt wurde, die Erinnerungen an Schönes und durch Zufall oder Schicksal gut Gewordenes. Ich muss sie in der richtigen Reihenfolge abspielen und mit den richtigen Worten erzählen: Dann wird alles gut, dann werde ich ruhig, dann werde ich schlafen. Die Worte sind wichtig. Und die Orte, ich muss nur zurück an die Orte, in den richtigen Momenten.
Ich muss wieder auf diese Weihnachtsfeier und wieder mit meinem Tablett voller Fingerfood durch die Räume gehen, durch riesige, weiß lackierte Flügeltüren, muss Menschen anlächeln, die ich nicht kenne und ihre Gespräche stören. Ich muss wieder Adam zum ersten Mal sehen, er muss wieder fremd werden, ich muss ihn wieder und wieder zum allerersten Mal sehen, Adam, einen langen, dünnen Mann mit merkwürdig verbogenen Beinen in zu weiten Jeans, der sich mit einer Hand am Türrahmen abstützt und eine Frau anlächelt, deren Gesicht ich nicht sehe, aber ich sehe seins, über ihrer Schulter, die keck verdreht und von etwas Schwarzem, Transparentem bedeckt ist, und rechts darüber Adams Gesicht. Und dann schaut er mich direkt an, die wärmsten Augen, die mich je angesehen haben, und ich sehe, wie er durch meine dumme Servieruniform hindurchsieht, wie er mich sieht und wie etwas in ihm stolpert und einknickt, final.
Ich muss zurück an den Strand auf Kreta, zurück in einen blau-weiß-gestreiften Liegestuhl unter einem roten Schirm, und zwischen meinen schlanken, braunen Schenkeln hindurchschauen, wie Elena und Juri im seichten, warmen Meer stehen und sich gegenseitig mit Wasser anspritzen, perfekte Kinder mit leuchtend orangen Schwimmflügeln und dem perfekten Kinderkrähen, während Adam mit Sonnenbrand neben mir im Sand hockt und meine Zehen kitzelt und unsere Kinder mit einem Blick voller Glück und Stolz betrachtet, mit meinem Blick, unserem gemeinsamen
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