Bestialisch
ihren Inhalt ansehen. So schön, so gigantisch. Sie erinnerten an zerfledderte rote Flaggen, die nach der Eroberung gehisst wurden. Er schüttelte die Flasche und beobachtete, wie die Fähnchen im Formalin herumschwirrten. Die Geschichte holte ihn ein, während er Geschichte machte. Und dies waren seine Standarten.
»Angriff«, flüsterte er.
Sein Arbeitstisch war weiß. Alles in diesem riesigen Raum war weiß. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis siebzehn Schichten Absperrfarbe aufgetragen waren. Früher war dies ein Büro gewesen, in dem Frauen arbeiteten. Ihr Geruch hatte sich in jeder Wandpore festgesetzt. Es hatte vierzehn Farbschichten gebraucht, bis der Geruch der Frauen beseitigt war.
Und weil er ganz sichergehen wollte, hatte er vorsichtshalber drei weitere Schichten aufgetragen.
Auf dem Tisch stand ein Tablett mit einem Fläschchen Modellbauerfarbe, einem Pinsel und einer kleinen roten Puppe, die in seine Hand passte. Als er die Puppe in die Hand nahm, musste er über ihr drolliges Gesicht, über ihre roten Lippen lachen.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm er eine … Bewegung wahr! Blitzschnell drehte er den Kopf zu den vier Fernsehmonitoren an der Wand. Darauf waren Bilder von vier Videokameras zu sehen, die er an den Außenwänden angebracht hatte. Mit angehaltenem Atem griff er nach der Fernbedienung und zoomte das Geschehen heran.
Als er sah, dass ein streunender Hund im Müll hinter dem Haus herumschnüffelte, holte er wieder Luft und widmete sich erneut der anstehenden Aufgabe. Nur noch einmal musste er das hier tun, und dann wurde Geschichte geschrieben.
Er betrachtete die rote Puppe, grinste selbstzufrieden und begann zu malen.
KAPITEL 36
Da mein Verstand an seine Grenzen stieß und ich ohne Schlaf nicht funktionierte, legte ich mich für ein paar Stunden aufs Ohr. Ich schlief hundsmiserabel, träumte von einer Mondlandschaft mit riesigen Cowboys, verletzten Indianern und toten Frauen mit aufgeschlitzten Bäuchen, die über den Boden krochen und Blutspuren hinterließen. Ich hörte Alice’ Stimme, doch als ich den Kopf drehte, war sie verschwunden. Jeremys Kopf fuhr blitzschnell aus Kratern heraus und lachte mich aus. Und wenn ich zu einem dieser Krater rannte, tauchte sein Kopf in einem anderen Loch auf und ich lief dorthin.
Irgendwo hinter dem Himmel sagte Vangie in düsterem Tonfall: »Tut mir leid, Carson.«
Gegen vier Uhr wachte ich auf und setzte mich an meine Papierrolle. Ich musste noch mal von vorn beginnen. Fügte ich den Namen Day hinzu, ergaben die unausgegorenen Thesen und Fragen endlich einen Sinn. Auf einmal ergab sich ein vollkommen anderes Bild.
Auf die Nachricht, die mir der blinde Parks in Jeremys Auftrag übermittelt hatte, konnte ich mir aber immer noch keinen Reim machen. Und egal wie lange ich über George Bernard Shaws Zitat nachdachte, besagte es am Ende doch nur, dass das ganze Land eine Irrenanstalt war. Solch eine Äußerung war für jemanden wie Jeremy, der nichts ohne Hintergedanken sagte, viel zu banal.
Missmutig überflog ich meine Anmerkungen und beugte mich über die Rolle, um eine andere These zu lesen, die ich ebenfalls zu Papier gebracht hatte. Als Parks über meinen Bruder gesprochen hatte, hatte er gesagt: »Er hat etwas Nettes über Sie gesagt. Er meinte, Sie wären stets der Held zu Wasser und zu Land. Das klingt doch nett, oder?«
Ich trat einen Schritt zurück und runzelte die Stirn. Stets der Held? Hatte Jeremy, als er urplötzlich neben meinem Bett stand, nicht genau dasselbe gesagt?
Fünf Minuten später saß ich im Business-Center des Hotels. Meine Finger flogen über die Tastatur, als ich verschiedene Wörter ins Eingabefeld der Suchmaschine schrieb. Stets, Held, Wasser, Land. Ich schickte die Anfrage ab, erhielt mehrere zehntausend Treffer und studierte Seite um Seite in der Hoffnung, dass mir irgendetwas weiterhalf.
Nach siebenunddreißig Seiten wollte ich schon aufgeben, als ich auf den Namen Walt Whitman stieß. Grashalme war eins von Jeremys Lieblingsbüchern gewesen. Ein Lehrer hatte es ihm im ersten Jahr auf der Highschool geschenkt. Jeremy hatte Whitman, der ebenfalls ein Suchender war, heiß und innig geliebt.
Ich gab Whitman als zusätzlichen Suchbegriff ein und überflog die neuen Ergebnisse. Auf der zweiten Seite entdeckte ich einen Treffer, wo die Begriffe Held, Wasser, Land hervorgehoben waren. Der dazugehörige Link gehörte zu einem zwanzigzeiligen Gedicht mit dem Titel Song for All Seas, All Ships.
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