Bestialisch
zufällig oder hingen davon ab, welcher Natur die Stimmen oder Bilder im Kopf des Betreffenden gerade waren. Die präzise Trennung, die Jeremy machte, war mir hingegen fremd. Ködern: erste Person, Morden: dritte.
Diese scharfe Abgrenzung zog sich wie ein roter Faden durch all seine Schilderungen.
Ich setzte mich, nahm mir die Akten noch mal vor und suchte nur die Verhöre heraus. Beim ersten Lesen hatte ich die hässlichen Details konsequent übersprungen. Jeremy hatte sich stur derselben Vorgehensweise bedient: die gleichen Mittel, das Opfer zu ködern, die Fahrt zum Schauplatz des Verbrechens, der Mord. Hatte man einen Fall studiert, kannte man im Grunde genommen alle.
»Ich sah, wie sie stehen blieb und auf mich zukam, merkte ganz genau, wie sie auf meine vorgetäuschte Traurigkeit reagierte …
… Ich vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war. Es wurde dunkel. Ich zog das Messer und befahl ihr, mich zu begleiten …
… Sie ging unbeholfen in die Garage. Die Frau hatte panische Angst, doch das war der Preis, den sie für ihren Verrat bezahlen musste. Jeremy sah, wie das Messer sie beobachtete …«
Und jedes Mal trat der Wechsel der Erzählperspektive an derselben Stelle ein. Ködern – erste Person. Die Fahrt zum Schauplatz des Verbrechens – erste Person. Und bei der Beschreibung des Mordes wechselte Jeremy konstant in die dritte Person. Es kam einem fast so vor, als ginge er durch eine Tür und verwandle sich beim Überschreiten der Türschwelle in einen anderen.
Darüber hinaus sprach er ab einem bestimmten Punkt von dem Messer, als wäre es ein selbstständig handelndes Subjekt. In der Köderphase schien es nur ein Werkzeug zu sein, während es sich beim Tötungsakt in ein Geschöpf oder – besser gesagt – in eine Art siamesischen Zwilling verwandelte.
Schämte sich Jeremy unterbewusst so sehr für die Morde, dass er diesen Gegensatz herstellen musste? Oder hatte es mit dieser linguistischen Marotte etwas ganz anderes auf sich? Hatte er eine zweite Persönlichkeit erschaffen, die die Morde für ihn erledigte … einen Avatar des Todes?
Dies machte meines Erachtens durchaus Sinn, auch wenn es brutal und grausam klang.
Ich riss die Vorhänge auf. Draußen setzte die Dämmerung ein. Während ich die Gebäude gegenüber und die Ampel unten auf der Straße betrachtete, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Was spielte sich in Jeremys Psyche ab, wenn er während der Verhöre von der ersten in die dritte Person wechselte? Und falls er sich tatsächlich in zwei Wesen aufspalten musste, wie war dann dieses Geschöpf, das die brutalen Morde verübte?
Und wo in ihm schlummerte es?
*
»Noch einen Cognac, Sir?«, fragte der Kellner mit der Flasche in der Hand.
»Satisfaga sim«, erwiderte Ridgecliff-Caldiera. »Ja … bitte. Sehr gern.«
Wie verdünnter Honig floss der wunderbare Weinbrand in das Glas. Ridgecliff saß bei Kerzenlicht an einem Tisch vor dem straßenseitigen Fenster des Restaurants und genoss ein Dessert, das er mit Hilfe des Küchenchefs selbst kreiert hatte: ein Stück Schokoladentorte in einem Eisbecher mit flambierten Kirschen und weißen und schwarzen Schokoraspeln.
Unglaublich lecker. Das Dessert hatte er Cerejas e chocolate no estilo de Jeremy getauft: Kirschen und Schokolade à la Jeremy.
Er nahm einen Schluck aus dem Kognakschwenker, zog einen Notizblock aus seiner Tasche und schlug die mit Aufgaben überschriebene Seite auf. Sein Blick fiel auf den kleinen Kasten, der neben dem Wort Transport stand. Taxis waren in dieser Stadt praktischer als jedes andere Transportmittel, hatten jedoch ein nicht zu vernachlässigendes Manko: einen Fahrer, der sich später vielleicht an ihn erinnerte. Aus diesem Grund hatte Jeremy einen rastlosen Letten als Privatchauffeur angeheuert, der ihn bei Bedarf herumkutschierte, was wesentlich weniger riskant war.
Dieses Problem war also gelöst.
Das nächste Kästchen trug den Namen Geld. Fürs Erste kam er über die Runden, doch New York war teuer, und er legte Wert auf einen angemessenen – nein, dekadent traf es besser – Lebensstil. Sollte sich ihm also die Chance bieten, sein Polster aufzustocken, würde er die Gelegenheit beim Schopf packen.
Doch zunächst konnte er dieses Thema abhaken. Das dritte Kästchen war mit Unterkunft überschrieben. In Midtown ein einigermaßen vernünftiges Apartment zu finden, war ein Kinderspiel gewesen. So lief es nun mal, wenn man über die entsprechenden Mittel und das richtige Auftreten
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