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Bestialisch

Titel: Bestialisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.A. Kerley
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derjenige, der sich mit den Irren so gut auskennt, Ryder. Jedenfalls nach Einschätzung von Dr. Prowse. Ist Ihnen inzwischen etwas eingefallen, wie wir diesem Mistkerl zuvorkommen und das Handwerk legen können?«
    »Nein … bislang noch nicht.«
    Sie verschränkte die Arme, tippte mit der Fußspitze auf den Boden und starrte mich an.
    »Puh, kann durchaus sein, dass ich zu viel erwarte, aber wäre es nicht langsam an der Zeit, dass Sie auch mal was für Ihr Geld tun?«
    Ich drehte mich um, ging weg und spürte, wie ich rot anlief.

KAPITEL 11
    Anstatt aufs Revier zu gehen, kehrte ich ins Hotel zurück. Ich schämte mich dafür, dass meine persönlichen Angelegenheiten mich daran hinderten, wie ein Profi zu handeln und meinen Beitrag zu den laufenden Ermittlungen zu leisten. Allem Anschein nach war ich nicht in der Lage, die Berichte über jene Taten zu lesen, deren mein Bruder sich in der Vergangenheit schuldig gemacht hatte.
    Ich schlug die Mappen auf, verteilte den Inhalt auf dem Tisch und bestellte beim Zimmerservice eine Kanne Kaffee. Nach ein paar Minuten unter der kalten Dusche fühlte ich mich wieder frisch und munter. Damit mich die Außenwelt nicht ablenkte, zog ich die Vorhänge zu.
    Nun konnte ich mich endlich auf die Morde meines Bruders konzentrieren.
    Ich holte tief Luft, machte mich an die Arbeit und beschäftigte mich vier Stunden lang mit den Berichten. Das Aktenstudium war qualvoll und stimmte mich unermesslich traurig. Beim Lesen brach ich zweimal regelrecht zusammen und weinte wie ein kleines Kind. Um die Opfer meines Bruders. Um meinen Bruder. Um meine kranke und kaputte Familie. Um mich.
    Gegen drei Uhr in der Früh legte ich den letzten Bericht weg und ging ins Badezimmer. Ich hielt mein Gesicht unter das kalte Wasser, um die Benommenheit zu vertreiben, und schrubbte mit einer Bürste den Kaffeebelag von den Zähnen, während mir die Aussagen meines Bruders wie eine Klangcollage durch den Kopf geisterten.
    »Wie haben Sie die Frauen angelockt, Mr Ridgecliff?«, wollte der Fragesteller laut Gesprächsprotokoll wissen. Gegenstand der Unterhaltung war Jeremys Begegnung mit einem Opfer im Mud Island River Park in Memphis.
    »Für diese Dame schlüpfte ich in die Rolle des Mannes, der von seiner Freundin verlassen wurde«, antwortete Jeremy. »Niedergeschlagenheit lässt sich am besten durch hängende Schultern vermitteln. Tränen habe ich nie vergossen. Ein weinender Mann wirkt verstörend. Darum habe ich nur geschnäuzt. In ein blaues Taschentuch, das die Farbe meiner Augen betont.«
    Später hatte er die Frau mit einem Messer bedroht und gezwungen, mit ihm an einen sicheren Ort zu gehen, wo er sie schließlich tötete.
    »Wie haben Sie sie umgebracht ?«, wollte der Fragesteller wissen.
    »Sie verlangte nach dem Messer und das Messer verlangte nach ihr, nach ihrer zarten rosa Haut. Jeremy beobachtete sie. Sie musste ihre Liebe zu der funkelnden Klinge unter Beweis stellen, musste zu ihr sprechen, bevor diese zu ihr sprach …«
    Im Geiste ging ich einen anderen Fall durch.
    »Ich wickelte ein Taschentuch, das ich in rote Farbe getaucht hatte, um meine Hand und zupfte daran herum, als wäre ich nicht in der Lage, meine Hand richtig zu verbinden. Ich behauptete, ich hätte mich am Fahrradschutzblech verletzt. Den alten Drahtesel hatte ich im Secondhandladen eines Wohlfahrtsverbandes gekauft. Und dieses alberne Rad hat sie dazu gebracht, mir zu vertrauen, denn gefährliche Männer fahren nicht mit roten Rädern herum. Auf die Auswahl der Mittel habe ich stets sehr großen Wert gelegt.
    Wie bitte, Sir? Ob es schwierig war, sie zu ködern? Nein, das war immer ganz einfach. Ich schlüpfte einfach in eine Rolle und mimte den Archetypus vom traurigen Kind, vom verletzten Kind, vom verlorenen Kind.«
    Und später:
    »Jeremy sah, wie sie weinte. Das Weinen war ganz natürlich, ein reinigender Vorgang. Und dann tauchte das Messer auf und suchte Gesellschaft …«
    Wenn Jeremy schilderte, wie er seine Opfer köderte, sprach er in der ersten Person. Und wenn er vom Tötungsvorgang berichtete, wechselte er mit gefühlloser Stimme in die dritte Person, sprach nicht mehr von ich, sondern von Jeremy.
    Eigenartig. Oder vielleicht doch nicht?
    Ich erinnerte mich an die vielen Interviews, die ich während meines Studiums und als Kriminalbeamter in Gefängnissen geführt hatte. Dass sich die Erzählperspektive – vor allem bei Schizophrenen – änderte, war mir vertraut, doch diese abrupten Wechsel schienen

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