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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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absolut nichts«, sagte er laut. »Verdammt noch mal.«
    Plötzlich erklang der Rufton seines iPhone. Auf dem Display erschien die Meldung »Unbekannter Anrufer«.
    »James?«
    »Ich habe dich gebeten, alleine zu kommen.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
    An James' Aussichtsplatz flatterte eine große Schreieule aus dem halb offenen Fenster.
    Martin aktivierte die Rückruffunktion.
    Nichts. Es klingelte in einem fort. Keine Ansage.
    Nun, wenigstens weiß ich jetzt, dass ich am richtigen Ort bin, dachte er, stieg aus dem Wagen und schaute sich um.
    Max kam mit dem Kaffee und den Croissants zurück.
    »Steigen Sie in den Wagen«, sagte Martin. »Wir werden beobachtet.«
    Max tat wie geheißen und folgte wie gewohnt bereitwillig den Anweisungen, die man ihm gab. Er saß entspannt hinter dem Lenkrad und öffnete mit der linken Hand das Handschuhfach, um sich vom Vorhandensein einer bestimmten Waffe zu überzeugen.
    »Wir warten.« Martin atmete zischend aus.
    Eine Kirche in der Nähe, deren Fundament auf römischen Ruinen aus dem dritten Jahrhundert ruhte, besaß einen knapp dreißig Meter hohen clocher, oder Glockenturm, von dem jemand, der Zugang oder einen Schlüssel zu dem Turm hatte oder mit dem Küster befreundet war, das gesamte Dorf überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
    Zu betrachten war nicht nur ein Panorama des Dorfs, sondern auch ein prachtvoller Flickenteppich unterschiedlichster Landschaften, der sich rund um den Turm von Horizont zu Horizont ausbreitete. Dies war ein kleiner Winkel Burgunds, ein müdes Land, durchsät von Porzellanscherben und farbigen Perlenketten von Kulturen, die zwischen der Champagne und dem Jura, zwischen der Marne und dem Meer umhergezogen waren. Zu finden waren hier Holzkohlereste, deren Alter mithilfe der Radiokarbon-Datierung fast bis auf den Punkt im Zeitstrom bestimmt werden konnte, an dem eine oder mehrere Personen an einem Lagerfeuer gesessen hatten, Erinnerungsstücke aus der Bronzezeit, Spuren mittelalterlicher Persönlichkeiten, wunderbar gearbeitete Spangen und Kleiderschließen und vereinzelte Überreste ähnlicher Türme. Und, natürlich, berühmte Grabstätten wie die der urzeitlichen Prinzessin von Vix, die man, gekrönt mit einem goldenen Diadem, zur ewigen Ruhe gebettet in ihrer Grabkammer gefunden hatte, und eine Vase, die sich als die älteste entpuppte, die je in Westeuropa aufgetaucht war. Menhire in Epoigny, ein römischer Tempel auf dem Mont Dardon oder die antike Villa Rustica in La Grenouillère. Und irgendwo in der Nähe hatten einst Völker gelebt, die man als Helvetier und Aedui kannte und die von Caesars Heeren verfolgt worden waren. James wusste alles über sie.
    James, siebenundsechzig Jahre alt, ein leichtes Zittern in der linken Hand, die das Mobiltelefon festhielt, das Fernglas in der rechten, konnte deutlich erkennen, dass Martin tatsächlich von einem Mann hierhergebracht worden war, der, seiner Livree und seinen geschliffenen Umgangsformen nach zu urteilen, nur sein Chauffeur sein konnte. Dies verkomplizierte die Situation, aber damit würde James sich abfinden müssen.
    Er ließ das Fernglas mit vierzigfacher Vergrößerung lose von seinem Hals hinabbaumeln und tippte mit der ruhigen rechten Hand eine Textnachricht in sein Mobiltelefon.
    »Kannst du dem Mann in deiner Begleitung uneingeschränkt trauen?«
    »Absolut«, tippte Martin seine Antwort und war erleichtert, dass er endlich mit dem Grund für diese spontane und morbide Expedition in ein Land, das ihn erstaunlicherweise nur wenig interessierte, in Kontakt getreten war.
    Eine kurze Pause entstand, dann vibrierte Martins iPhone. Martin nahm den Ruf an und bemerkte, dass Max den Blick gesenkt hielt und darauf achtete, nicht in den Rückspiegel zu schauen.
    »Absolut«, wiederholte er. »Er ist seit Jahren mein Chauffeur und Leibwächter. Ich verbürge mich für ihn in jeder Hinsicht.«
    »Na schön«, sagte James schließlich. »Dann geht es weiter. Bist du einigermaßen in Form?«
    »Machst du Witze?«
    »Es ist kein Witz, Martin. Dein Fahrer wird dich spätestens in zwei Stunden zu einer eingestürzten Brücke bringen ...«
    Und er nannte genaue Satellitenkoordinaten.
    »Aber wie?«
    »Auf deinem iPhone gibt es ein Programm, das alles Notwendige erklärt. Es ist nicht allzu kompliziert. Sogar ich komme damit klar.« James fuhr fort und beschrieb die geborstene Brücke. Er wies auf das durch die starken Regenfälle in dieser Jahreszeit bedingte schwankende Niveau des

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