Bestiarium
Meter, jedoch war es ihm vorgekommen wie eine Ersteigung des Mount Everest. Ein Großstadtkind wie ich ist für solche Abenteuer nicht geschaffen, dachte Martin. Er fragte sich, wie der um einiges ältere James mit diesem Gelände fertig geworden war und aus welchem obskuren Grund er ausgerechnet hierher geschickt worden war.
Martin kletterte über den sandigen Uferwall, indem er sich an den dicken Wurzelsträngen einer Platane hochzog, und setzte sich dann hin, um sich ein wenig auszuruhen und wieder zu Atem zu kommen. Er war durchnässt und fror erbärmlich. Der Regen nahm zu.
Nach einer Minute stand er wieder auf, schaute sich suchend um, entschied sich für eine Richtung und marschierte in den dunklen Wald hinein, bis er zu einem dicht mit Gras bewachsenen Hohlweg gelangte, der bergauf ins Ungewisse führte.
KAPITEL 13
J ulia Deblock traf in der Polizeizentrale in der Innenstadt von Antwerpen in Begleitung eines älteren Herrn ein, der mit einer priesterlichen Soutane bekleidet war. Sie gingen an Julias kleinem Büro, in dem sie während der letzten vierzehn Monate gearbeitet hatte, vorbei direkt zur geschlossenen Bürotür ihres Chefs. Sie klopfte zweimal und trat dann ein.
»Diese vier Buchstaben, CSPB. Ich glaube, sie beziehen sich auf Hythlodae«, verkündete sie.
Le Bon musterte den älteren Mann in ihrer Begleitung. Er glaubte, ihn zu kennen, war sich aber nicht sicher.
»Das ist mein Onkel, Pater Bruno.«
»Sagen Sie ruhig Leopold zu mir.«
Der Inspektor schickte Julia einen fragenden Blick, dann erhob er sich und schüttelte dem Onkel über seinen unaufgeräumten Schreibtisch hinweg die Hand.
»Paul Le Bon. Kennen wir uns?«
»Ja. Wir sind uns mal vor zwölf Jahren begegnet. Ich war damals in der Pfarreiverwaltung tätig, als ein Mann unsere Kirche betrat, irgendetwas rief und dann erfolglos versuchte, ein bedeutendes Gemälde zu beschädigen, ehe er sich das Leben nahm.«
»Die Kreuzabnahme. Dann hat er sich in sein Messer gestürzt. Ein sehr ungewöhnlicher Fall.«
»Der Fall ist abgeschlossen. Wir versuchen zu vergeben und zu vergessen«, sagte der Priester ernst.
»Soweit ich mich erinnere, war da auch noch etwas anderes.«
»Genau«, bestätigte Julia Deblock. »Deshalb dachte ich auch, dass es sinnvoll wäre, wenn Sie beide noch einmal zusammenkämen.«
»Weshalb?«, fragte Le Bon.
»Julia hatte eine Vermutung. Ein kluges Mädchen«, sagte Bruno. »Obwohl sie viel zu jung ist, um sich daran zu erinnern, was an jenem Tag geschah. Es war nicht das erste Mal. Und so wie ich es jetzt sehe, wird es auch nicht das letzte Mal bleiben.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Es geht um diesen Mijnheer Hythlodae«, fuhr der Priester fort.
»Er liegt im Leichenschauhaus«, erklärte Le Bon knapp. »Sie werden ihn heute noch obduzieren. Kannten Sie ihn?«
»Nicht persönlich. Darf ich mich setzen?«
»Entschuldigung. Natürlich, bitte. Wollen Sie etwas trinken?«
»Nicht nötig«, erwiderte Bruno und unterdrückte den Wunsch nach einem Kaffee. Er musste sich mit einer Offenbarung seines Arztes anfreunden - einem Blutdruckwert von 180 zu 130 - und versuchte offensichtlich, die passenden Worte für eine anscheinend delikate Angelegenheit zu finden, anstatt sie offen und direkt auszusprechen. »Julia erwähnte, vergangene Nacht habe in den Docks des Hafens hier in Antwerpen ein seltsamer Vorfall stattgefunden. Und dass die Buchstaben CSPB in ein Stück Metall am Tatort eingeritzt waren.«
»Warum interessieren Sie sich dafür?« Le Bon fixierte den Priester mit seinen stahlgrauen Augen und wusste nicht recht, ob er sich darüber ärgern sollte, dass seine Assistentin vertrauliche Informationen weitergegeben hatte. Sie musste dafür einen triftigen Grund gehabt haben.
»Niemand in meiner Position kennt diese Buchstaben nicht.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Le Bon.
»Crux Sancti Patris Benedicti. Das Kreuz unseres heiligen Vaters Benedikt. Sankt Benedikt.«
»Und was heißt das?«
»Die Buchstaben stammen von der Medaille des heiligen Benedikt, zweifellos der wichtigste und, wenn Sie so wollen, der umfassendste Sündennachlass, den die Kirche im Augenblick des Todes gewähren kann.«
»Ich erinnere mich«, sagte Julia eifrig. »Es gibt unzählige Geschichten aus den alten Zeiten, dass man sich einen ›Nachlass‹ von der Kirche kaufen konnte. Wenn man, sagen wir, ein Ehebrecher war, konnte man sich einen Nachlass kaufen, der sofort diese Sünde tilgte.«
»Das
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