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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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weiterer Umschlag. Und darin ein Bogen Papier, den er unter die Lampe auf dem Lesetisch hielt.
    »Dies ist eine Seite, die für ein Buch vorgesehen war, das allgemein unter dem Namen Sherborne Missal bekannt ist und zurzeit in irgendeiner staatlichen Bibliothek liegen dürfte. Die Handschrift wurde etwa um 1400 illustriert. Sie enthält etwa hundertsiebzig Vogel- und Insektenarten. Viele sind bekannt und eindeutig zu identifizieren, aber einige werden von Kunsthistorikern als Fantasiegebilde eingestuft.« James deutete auf eine der kleinen kolorierten Figuren auf dem Blatt. »Dieser Vogel. Woran erinnert er dich?«
    »Du fragst den Falschen, mein lieber Onkel. Ich kann höchstens ein halbes Dutzend Vögel identifizieren. Eine Krähe, einen Habicht, einen Pfau, ein Huhn, einen Sperling. Das ist es auch schon. Oder vielleicht sogar, wenn ich nahe genug herankomme, eine Meise. Und, seit heute, einen Falken. Ein wunderschöner Vogel. Ich glaube, er hat mich gemocht.«
    »Ja, ich glaube, das hat sie. Nun, das ist eine Laysanralle. Ich hatte nicht erwartet, dass du sie erkennst, die meisten Leute tun dies übrigens auch nicht. Sie ist auf irgendeinem abgelegenen Atoll der Midway-Inseln, westlich von Hawaii, 1943 ausgestorben.«
    »Demnach war sie einigermaßen weit verbreitet.«
    »Das wissen wir nicht. War sie ein Zugvogel? Dieser hier bestimmt nicht. Tatsächlich hat dieser Vogel im Laufe seiner Entwicklung seine Flugfedern verloren. Andere Rallenarten ja. Sie waren sehr gute Flieger. Viele Vögel werden von Stürmen auf Kontinente geweht, die ihnen völlig fremd sind, während andere, sobald sie erwachsen sind, regelmäßig zu irgendwelchen fernen Orten aufbrechen. Klimawechsel haben seit je Tierwanderungen jeder Art beeinflusst. Aber europäische Vogelarten hatten nie viel für die Tropen übrig, soweit wir wissen.«
    »Was hat sie dann in einer in Europa entstandenen Handschrift aus dem Jahr 1400 zu suchen? Die Midway-Inseln lagen nicht gerade auf dem Weg der ersten europäischen Entdecker. Und mit einiger Sicherheit kann man wohl davon ausgehen, dass kein Wikinger jemals bis in den Pazifik vorgedrungen ist, es sei denn, Thor Heyerdahls These würde völlig umgeschrieben.«
    »Richtig. Und daraus ergibt sich eine noch viel interessantere Frage. Wie kommt es, dass der Vogel sich da draußen, hinter der Mauer, ausgesprochen wohl fühlt? Ich weiß es, denn ich habe ihn gesehen.«
    »Ich nehme an, du wirfst diese Frage nur auf, um sie auch gleich zu beantworten, oder?«
    »Ja. Der Vogel war schon hier, ehe er seine Fähigkeit zum Fliegen verlor.«
    »Einfach so?«, erwiderte Martin. Er wusste nicht, welche Schlüsse er aus dieser Information ziehen sollte.
    »Ja. Wir haben es hier mit einem, gelinde ausgedrückt, ausgedehnten Zeitrahmen zu tun. Einem Zeitrahmen, der Platz für evolutionäre Entwicklungen lässt.«
    »James, ich verkaufe Land.«
    »Ja, das tust du. Und deshalb bist du hier.«
    »Wie bitte?«

 
    KAPITEL 22
     
    J ames hatte Martin ein Fernglas gegeben, damit er durch den Dunst über die Mauer blicken konnte. Der seit Stunden andauernde Regen hatte für kurze Zeit nachgelassen, während sich die Dunkelheit auf das Château und die umliegende Wildnis herabsenkte.
    »Schau mal dort, siehst du es?«
    »Was soll ich wo sehen?«, fragte Martin. Er war müde von diesem Tag und der Flut von Informationen über Vogelarten, Wildgebiete und den immer noch unaufgeklärten Geheimnissen, die den Tod seines Vaters umgaben. Überdies steckte hinter dem Todesfall mehr, als es den Anschein hatte. James hatte offenbar eine Mission, die sehr viel komplexer und weitreichender zu sein schien als die bloße Klärung des unerwarteten Todes eines Familienmitglieds.
    »Es sieht aus wie eine Katze«, sagte James, während er einen Punkt in der Dunkelheit fixierte. »Oder auch ein wenig wie ein Hund, aber mit Streifen, dort, sieh genau hin!« Martin staunte über die scharfen Augen seines Onkels, die ohne künstliche Sehhilfe auskamen.
    »Ja, auf der Mauerkrone. Wie breit ist sie?«
    »Einen Meter.«
    Plötzlich war das Tier verschwunden, nachdem es von der Mauer in den Wald auf der bergwärts gelegenen Seite gesprungen war. Dort, sich vor dem Château ausbreitend, begann das, was man angesichts der vorwiegend flachen Landschaft Burgunds durchaus als gebirgiges Terrain bezeichnen konnte. Es bestand aus zahllosen Hügeln und einem Labyrinth mehr oder weniger tief eingeschnittener Täler und gehörte zum Besitz.
    »Was war das?«,

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