Bestiarium
fragte Martin. »Ein Hund oder eine Wildkatze?«
»Ein Thylacinus cynocephalus.«
»Bitte auf Englisch, sodass ich es verstehe, James.«
»Ein Thylacine.«
»Der Name klingt eher wie irgendeine Droge.«
»Die Deutschen nennen ihn auch Tasmanischer Tiger. Er ist ein Beuteltier, ähnlich einem Känguru. Aber eigentlich ähnelt er eher einem Wolf, daher lautet sein anderer Name auch Beutelwolf.«
»Ich habe noch nie davon gehört«, sagte Martin und schämte sich kein bisschen wegen seiner totalen Unkenntnis oder gar seines nicht vorhandenen Interesses, was Wölfe oder Kängurus betraf.
»Er ist angeblich 1936 in einem australischen Zoo ausgestorben«, erklärte James.
»Erst vor so kurzer Zeit? Wie konnte er in deinen Besitz gelangen?«
»Du folgst mir nicht.«
»Natürlich tue ich das. Du hast all diese in der restlichen Welt ausgestorbenen Kreaturen und lässt sie um dein Haus herumschleichen. Das verstehe ich nicht. Entweder sind sie ausgestorben, oder sie sind es nicht. Und wenn nicht, dann weiß die wissenschaftliche Welt sicherlich darüber Bescheid. Du bist doch sicher mit ihr in Kontakt, nicht wahr? Oder ist dies hier irgendein teuflisches Experiment, ein perverses Kuriositätenkabinett, wie es so schön heißt?«
»Nein, mein Lieber. Nichts davon. Wenn überhaupt, dann findet das Experiment draußen statt, außerhalb dieser Mauer, zwischen hier und Paris, London, New York, der ganzen Welt. Hör mal, ich glaube, wir sind deinem Fahrer mindestens ein Abendessen schuldig. Und danach können wir beide unser Gespräch fortsetzen.«
»Das klingt verdächtig nach einem Plan, James. Und übrigens, damit du nicht denkst, dass der Anblick dieser seltsamen kleinen Schoßtiere auf deiner Farm mich völlig unberührt lässt, solltest du wissen, dass Margaret und ich kürzlich einen Esel angeschafft haben.«
»Einen Esel?«
»Ja, eigentlich für unseren Sohn Anthony. Nicht gerade der typische Zeitvertreib für einen Teenager, aber dort, wo wir wohnen, haben wir genug Platz. Du weißt ja selbst, dass diese Tiere oft unter schlimmen Bedingungen gehalten werden, und wir fanden ihn im Zuge einer Wohltätigkeitsaktion, an der wir beteiligt waren, und jetzt ist er bei uns.«
»Was für eine Eselart?«
»Woher soll ich das wissen? Moment mal, ich weiß es doch. Ich glaube irgendetwas Französisches.«
»Ein Poitou? Sehr zottiges Fell?«
»Ja, so einer ist es. Nicht wie ein Wolf. Oder wie immer du es genannt hast. Übrigens, gibt es eigentlich in Frankreich noch Wölfe? Ich bin sicher, dass es in England keine gibt. Dafür natürlich jede Menge Füchse. Zehntausend alleine auf den Straßen Londons. Ich begrüße diese Aktionen gegen die Fuchsjagd aus vollem Herzen. Ich habe diesen barbarischen Anachronismus der reichen Landjunker noch nie verstanden.«
James befand sich bei seinem Neffen an einer Art Scheideweg. Wie, fragte er sich, konnte jemand, der so wenig über Naturgeschichte wusste, Millionen Pfund mit dem Verkauf von Landflächen verdienen? Nicht dass es für ihn von Bedeutung war. Wichtig war in diesem Augenblick einzig und allein, schnell zu handeln. Er musste seinem Neffen vertrauen, und es durfte keine Zeit mehr vergeudet werden. Mittlerweile war es nach sechs Uhr abends.
Vor drei Tagen hatte James erfahren, dass der Bürgermeister grundsätzlich einem umfangreichen Entwicklungsplan zustimmen wollte, der vorsah, dass schon bald Industriebetriebe und an die zwanzigtausend Menschen einen Weg in diese Gegend finden sollten. Genau genommen wurde seit Jahren über eine Hightech-City diskutiert, die in Paris ansässigen multinationalen Konzernen weitaus günstigere Bedingungen zur Einrichtung ihrer Verwaltungszentralen bieten würde. Angesichts erheblicher durch die Lage bedingter Steuervorteile und einer viel besseren Lebensqualität für die Angestellten brauchte sich nur eine Firma mit bekanntem Logo hier anzusiedeln, um weitere Betriebe anzulocken, und das Geschäft schien so gut wie unter Dach und Fach zu sein. James brauchte Geld, und das schnell. Und jemanden, der das Angebot machte und die Verhandlungen führte. Jemanden, der ihm totale Anonymität garantieren konnte.
»Der Ausbruch dieser Tierseuche verschafft uns vielleicht einen Monat oder mehr Zeit«, hatte James früher an diesem Tag Edouard Revere erklärt. Edouard redete nicht. Er hörte zu. James hatte in der Leitung ein seltsames Klicken und ein hohles Echo wahrgenommen. Er legte auf. Er wusste, dass jemand lauschte. Aber hatte Revere es
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