Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
hatte wahllos Frauen ausgewählt, war ihnen nachgegangen, nachgefahren und hatte ihnen mit einem mitgebrachten Messer tödliche Stich- und Schnittverletzungen zugefügt. Es ist nicht auf die Tötungshandlung hinausgegangen. Es war das Verletzen per se. Er hatte sich nicht weiter um die Opfer gekümmert, ein paar persönliche Gegenstände mitgenommen. Können wir nicht zunächst einmal feststellen, dass ähnlich gelagertes Verhalten von ähnlich gelagerten Persönlichkeiten kommt? Kennt nicht die forensische Psychiatrie in ihren klassischen Werken gleiche Vorgangsweisen? Sie durchleuchtet die Biografie der Menschen, indem sie bestimmte Merkmale feststellt. Auf der anderen Seite hat sie vorgegebene und definierte Krankheitsbilder, die dann angenommen werden können, wenn bestimmte Umstände zutreffen. „Wenn sechs der angegebenen acht Merkmale zutreffen, dann …“ Die Person, die Biografie, das Gesagte stehen im Vordergrund. Das „Material“ ist der Mensch, das Werkzeug die Aufarbeitung der Biografie, das Explorationsgespräch führt zu psychiatrischen Klassifikationsschemata. Das „Material“ der Kriminalpsychologie ist das Verhalten, die Veränderung der Umwelt und die Schlussfolgerung auf die darunter liegenden Bedürfnisse, das Werkzeug die Tatortanalyse. Es ist der Versuch, aus zwei verschiedenen Seiten auf ein und dieselbe Sache zuzugreifen, um sie nicht nur beurteil-, sondern auch überprüfbar zu machen. Das war der Weg, den ich verfolgen wollte, unterschiedliche Disziplinen zusammenzuführen, aber das Verständnis dafür zu wecken, dass, selbst wenn sie zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, sie sich trotzdem um die gleiche Sache bemühen.
Es könnte ja sein, dass zwei Menschen auf zwei verschiedenen Seiten an ein und derselben Litfaßsäule stehen. Der eine bewundert den Umstand, dass heute Abend in der Stadt, in der er wohnt, der Chinesische Nationalzirkus gastiert, und teilt das seiner Frau, die neben ihm steht, freudestrahlend mit. Der junge Bursche, der auf der anderen Seite der Litfaßsäule steht, schüttelt den Kopf und sagt: „Das stimmt nicht, heute Abend gibt es ein Popkonzert in unserer Stadt. Hier steht es geschrieben. Ein großes Plakat.“ Im Prinzip haben beide Leute recht, nur betrachten sie eben ein und dieselbe Sache, nämlich die gleiche Litfaßsäule, von zwei verschiedenen Seiten. So verhält es sich auch mit der kriminalistischen und der kriminalpsychologischen Betrachtungsweise, mit der kriminalpsychologischen und der forensisch-psychiatrischen – Ursache und Wirkung.
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Hat uns nicht Jens ein Stück weiter in die Welt desjenigen hineingetragen, der in Bern die Überfälle getätigt hat? Aber reicht uns diese Betrachtungsweise? Was fangen wir damit an? Was wäre jedoch, wenn wir mehrere Personen finden würden, die uns zu ein und demselben Verhalten die gleichen Erklärungsansätze bieten, dass sie zurückgezogen und schüchtern waren, dass ihr Verhalten eine Mischung aus Abneigung und Zuneigung zu den Frauen ist? Eine Mischung aus Gewaltfantasien und positiven sexuellen Bedürfnissen. Er berichtete uns, dass es einem Jagdverhalten gleichkam, den Frauen nachzufahren und sie aufzuspüren, um dann seinen Bedürfnissen freien Lauf zu lassen. Er beschreibt aber auch, dass seine Fantasien schlimmer geworden sind, seitdem er inhaftiert wurde, weil ihm ja die Möglichkeit genommen wurde, sie in die Realität umzusetzen. Er beschreibt, dass er sie ausgebaut hat. Wenn man aber nun die rein juristische Betrachtungsweise anlegt, wäre das Zustechen auf einen anderen Menschen eine Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, vielleicht ein Totschlag, vielleicht ein Mord. Aber besagen all diese Bezeichnungen etwas über das darunter liegende Motiv? Geben sie uns einen Hinweis darauf, wie wir beginnen könnten, mit diesen Menschen zu arbeiten, um an die Ursache heranzukommen, um dadurch am Rad der Wirkung zu drehen? Verhalten ist bedürfnisorientiert. Wir können das Verhalten eines anderen nicht ändern, außer wir gehen auf dessen persönliche Bedürfnisse ein. Wie steht es nun darum, wenn wir die Bedürfnisse falsch erkennen? Wenn wir das Zustechen auf eine Frau rein juristisch als Körperverletzung ansehen und nicht begreifen, dass dahinter eine gewalttätige sexuelle Fantasie steht. Befragen wir jemanden, der schon sehr früh damit begonnen hat, auf Frauen einzustechen, und kurze Zeit, nachdem er entlassen wurde, eine Frau mit 79 Messerstichen umgebracht hat. Sagen wir ihm einfach,
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