Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
einzugehen, indem wir innerhalb von Wochen und Monaten neue Ordnungen schaffen, Hunderte Reformen ausrufen und älteren Menschen, denen wir eigentlich beschämt danken sollten, dass sie uns die Möglichkeit einer inneren Zufriedenheit aufbereitet haben, die kalte Schulter zeigen? Stattdessen verjagen wir sie, finden keine Zeit, um ihnen zuzuhören und zu lernen. Bezeichnen sie noch zynisch als „Alte“, die irgendwo herumschwirren und über die wir eigentlich nur mehr in dem Zusammenhang nachdenken, wie wir sie rasch loswerden könnten. Die schnelllebigste Reform produziert bereits die nächste – und wir sind kaum mehr in der Lage innezuhalten und produzieren damit, ohne dass wir es wollen, die Ursachen für die Wirkungen von morgen – auch jene, die wir gar nicht sehen wollen.
Suche den Feind im Schatten deiner Hütte …
36.
Mit all diesen Erkenntnissen und noch mehr Informationen aus vielen Gesprächen in Hochsicherheitsgefängnissen, von unterschiedlichen Biografien und mit dem Wissen, dass die gleiche Ursache in der Regel ähnliche Wirkungen hervorbringt, gehen wir zurück nach Bern und versuchen ein scheinbar nicht nachvollziehbares Verhalten aufzubrechen, darzulegen, Ermittlungsansätze zu finden, Verbindungen herzustellen, um als zusätzliches Hilfsmittel zu agieren. Es ist nicht nur wahrscheinlich, sondern als nahezu sicher anzusehen, dass beide Überfälle von ein und demselben Täter verübt wurden. Es ist aber auch sehr wahrscheinlich, dass eine Reihe von anderen Überfällen auf Frauen, bei denen der Täter ihnen teilweise Flüssigkeit in das Gesicht gespritzt hat, ihnen Handtaschen entrissen hat und in weiterer Folge seine Opfer mehrmals schriftlich kontaktierte, von ein und derselben Person stammt. Es ist der Versuch, dem allgemeinen Hass Frauen gegenüber in einem mehr als logischen Entwicklungsverlauf Raum zu geben. Frauen niederzustoßen, anzurempeln, zu schlagen, zu würgen, ihnen persönliche Gegenstände wie Handtaschen wegzunehmen, aber nicht, wie man vielleicht juristisch meinen würde, aus einer Bereicherungshandlung heraus, aus dem Versuch, sich materiell höher zu stellen. Nein, das Bedürfnis ist ein anderes. Es geht darum, Macht, Dominanz und Kontrolle über andere Menschen zu besitzen. Ein logisches Vorspiel zu jenen, die mit einem Messer über andere Körper ziehen, in die Augen der leidenden Opfer blicken und sagen: „Es war ein schöner Augenblick.“
Das Rauben von Handtaschen lässt zunächst an ein Bereicherungsdelikt denken, aber andererseits ist das Zurückschicken von persönlichen Gegenständen, das Anschreiben der Opfer, nichts anderes als ein Ausdruck dessen, dass ich sagen will: „Ich weiß, wo du wohnst, ich weiß, wer du bist.“ Macht, Dominanz und Kontrolle waren die Basis für diese Verbrechen in Bern, die Handlungen durch viele Gespräche logisch und nachvollziehbar. Die Stärke des Täters ist seine Tarnung und der Irrtum jener, die glauben, die Tarnung erkennen zu können. Es ist die beste Tarnung, nämlich die der Normalität. Die Schwäche ist seine mangelnde Kommunikationsfähigkeit. Er kann nicht direkt kommunizieren. Es fällt ihm schwer, über sich selbst zu sprechen. Um die Sache nicht weiter eskalieren zu lassen, muss man zumindest den Versuch unternehmen, es zu tun. „Man kann das Verhalten eines anderen Menschen nicht ändern …“
Aus der Erfahrung der Biografien sowie aus der Erfahrung mit den Gesprächen war die Empfehlung an die Ermittlungsbehörden ganz klar. Es galt die Kommunikation aufzunehmen und all jene Schlagzeilen zu relativieren, welche genau das Gegenteil produzierten, indem sie dem Täter mitteilten, man wisse, dass er nichts anderes vorhabe als weiterzutöten, welche die Person als Bestie in Menschengestalt darstellten. All diese Formen der Kommunikationsaufnahme galt es zu relativieren. Die Empfehlung an die Ermittlungsbehörden war klar, nämlich proaktiv an die Sache heranzugehen, das Tötungsdelikt nicht gerade als „Unfall“ darzustellen, aber als mögliche Eskalation, in der Hoffnung, dass dieser dünne Faden der Kommunikation aufgegriffen würde, dass der Täter dazu überging, seine Zeit dafür zu verwenden, sich zu rechtfertigen, zu schreiben, aktiv zu handeln, aber in einer Art und Weise, dass er keine weiteren Verbrechen beging.
Die Zusammenarbeit mit den Schweizer Behörden funktionierte reibungslos. Man betrachtete mich als das, was ich in allen Fällen bin: als zusätzliches Hilfsmittel und nicht als Gegner,
Weitere Kostenlose Bücher