Bestien
tat
einen humpelnden Schritt darauf zu.
Das Krachen von Schüssen zerriß die Nachtstille, und
Sharon warf die Arme hoch und brach mit einer halben
Drehung zusammen, tot, bevor sie am Boden aufschlug.
Kugeln prallten von den Blöcken und kreischten als
Querschläger durch die Dunkelheit.
Die Schüsse waren noch nicht verhallt, da sprang Mark
schon aus der Deckung hinter dem Block, schlüpfte durch
einen schmalen Spalt zwischen zwei anderen und begann, sich
weglos den Hang hinaufzuarbeiten, bald zwischen den Felsen,
bald über sie hinweg.
»Er flieht!« hörte er eine Stimme rufen. »Laß den Hund los,
verdammt!«
Wieder hörte er das hitzige Gebell hinter sich, als der Hund
die Verfolgung aufnahm. Auch die Männer kamen, versuchten,
ihn mit den Lichtkegeln ihrer starken Lampen zu fassen, und
taten ihr möglichstes, mit ihm Schritt zu halten; aber sie waren
nicht annähernd so schnell wie Mark oder der Hund, und
innerhalb weniger Minuten hatte er einen sicheren Vorsprung
herausgeholt.
Plötzlich ertönte wütendes Knurren hinter ihm, und Mark
flog im selben Augenblick herum, als der große Schäferhund
ihn ansprang.
Er fing ihn in der Luft auf, packte ihn bei der Kehle und
hielt seine schnappenden Kiefer auf Distanz. Diesmal nahm er
sich nicht die Zeit, das Tier zu erwürgen, denn diesmal wußte
er genau, was er tat. Er mußte den Hund töten, bevor die
Männer auf Schußweite herankamen.
Er packte das Tier fester bei der Kehle, schwang es wie eine
Keule über den Kopf und ließ den Körper mit aller Macht auf
einen Felsblock niedersausen.
Es gab ein scharfes, knackendes Geräusch, als die
Wirbelsäule des Hundes über dem Fels brach, und das Tier
erschlaffte. Mark ließ es fallen, wandte sich um und sprang
davon in die Sicherheit der Nacht.
Er wußte, daß die Männer ohne den Hund keine Chance
hatten, ihm zu folgen, geschweige denn, ihn einzuholen.
Er atmete tief die Nachtluft, und seine Nase witterte
Gerüche, die er nie zuvor erfahren hatte, all die feinen
Gerüche, die der menschlichen Nase verborgen bleiben, die
aber ein Tier durch die Nacht führen können.
Er brachte das Blockfeld hinter sich und erreichte einen
grasigen Hang mit lockerem Kiefernbestand. Nun kam er noch
schneller voran, und seine kräftigen Beine gingen wieder in
den leichten Rhythmus über, den er, wenn es sein mußte, die
ganze Nacht beibehalten konnte.
Er stieg weiter bergan, hinauf in die weiten Bereiche der
Bergwälder und Wiesen, angelockt von dem ihm noch
unbewußten feinen Duft wahrer Freiheit, den nur ein wildes
Tier kennt …
27
FAST ZWEI WOCHEN WAREN SEIT DER BEERDIGUNG ihrer Familie
vergangen. Seither war Kelly Tanner jeden Morgen verwirrt in
der unvertrauten Umgebung des kleinen Zimmers aufgewacht,
das Lindas Zimmer im Haus der Harris’ benachbart war. Und
jeden Morgen war ihr Kopfkissen feucht, brannten ihr die
Augen vom Weinen. An diesem Morgen aber, einem Samstag,
wußte Kelly beim Aufwachen sofort, wo sie war.
Und der Kopfkissenbezug war trocken, was bedeutete, daß
sie in dieser Nacht überhaupt nicht geweint hatte. Oder
wenigstens nicht genug, um das Kissen naß zu machen.
Sie blieb ein paar Minuten im Bett liegen und lauschte den
Geräuschen im Haus. Es war kein großer Unterschied zu
denen, die sie von daheim gewöhnt war, und wenn sie die
Augen schloß und sich konzentrierte, konnte sie sich beinahe
einbilden, daß sich nichts verändert habe, daß sie wieder in
ihrem Zimmer im Haus am Telluride Drive sei.
Das Aufdrehen der Badezimmerbrause bedeutete, daß ihr
Vater bereits aufgestanden war, und das Geklapper von
Geschirr in der Küche bedeutete, daß ihre Mutter das Frühstück
bereitete. Sie konnte sich sogar einbilden, daß die dumpfen
Geräusche vom anderen Ende des Korridors aus Marks
Zimmer drangen; daß er dort die Freiübungen machte, mit
denen er vor einem Monat angefangen hatte.
Aber es war nicht Mark, und es waren nicht ihre Eltern. Es
war bloß die Familie Harris, und wenn sie auch wußte, daß sie
versuchten, sehr nett zu ihr zu sein, hatte sie immer das
störende Gefühl im Hintergrund ihres Bewußtseins, daß sie
ihnen in Wirklichkeit gleichgültig war, daß sie dachten, sie
müßten nett zu ihr sein, weil sie jetzt eine Waise war.
Eine Waise.
Sie wendete das Wort in ihren Gedanken um und um,
untersuchte es, bis es keine Bedeutung mehr zu haben schien.
Es war ein Spiel, das sie bisweilen mit sich selbst spielte: Sie
nahm ein einfaches Wort und wiederholte es immer aufs neue,
bis statt einer
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