Bestien
ihr immer genügt.
Heute würde Chivas nicht da sein.
Tränen traten ihr in die Augen, und sie wischte sie mit dem
Jackenärmel fort, bevor sie die Straße überquerte und in die
Zufahrt bog.
Ihr Gefühl, daß das Haus leer sei, war jetzt noch stärker. Sie
steckte die Hand in die Tasche, um ihren Türschlüssel
herauszuholen, aber etwas sagte ihr, sie solle es so versuchen,
und wirklich war die Haustür nicht zugesperrt.
Wenn die Haustür nicht zugesperrt war, bedeutete es
gewöhnlich, daß ihre Mutter zu Haus war.
Aber heute ging von dem Haus trotzdem dieses komische
Gefühl von Leere aus.
»Mama?« rief sie, als sie in die Diele trat, die Tür hinter sich
offen lassend. »Ich bin’s! Ist jemand da?«
Alles blieb still, und ihre unbestimmten Empfindungen von
Sorge drangen verstärkt auf sie ein. Wieso war die Haustür
nicht zugesperrt, wenn niemand daheim war?
Sie sagte sich, daß niemand in Silverdale die Haustür
zusperrte, wußte jedoch, daß ihre Familie es immer tat.
Sie ging in die Küche und warf ihre Schultasche auf den
Tisch, dann suchte sie den Kühlschrank nach einer Notiz ab.
Es gab keine.
Ihre erste Regung war, den Vater im Büro anzurufen und zu
fragen, wo die Mutter sei, aber sie ließ es sein. Sie durfte ihren
Vater nur in einem wirklichen Notfall anrufen, wenn das Haus
brannte oder jemand krank war oder so etwas. Daß ihre Mutter
keine Notiz für sie hinterlassen hatte, bedeutete nicht, daß
etwas Schlimmes geschehen war.
Sie öffnete den Kühlschrank und sah den Inhalt durch,
während sie überlegte, ob sie etwas essen wollte, dann schloß
sie ihn wieder. Sie hatte überhaupt keinen Hunger.
Sie ging mit gespitzten Lippen zur Hintertür, stellte sich auf
die Zehenspitzen und sah durch das Türfenster hinaus in den
Garten.
Und jetzt sah sie zum ersten Mal, daß wirklich etwas nicht
stimmte.
Die Tür zum Kaninchenstall stand weit offen, aber drinnen
sah sie die Kaninchen alle auf einem Haufen.
Das war seltsam, denn wenn sie eine Gelegenheit hatten,
versuchten sie immer, aus ihrem Gehege zu entkommen; oft
schlüpften sie zur Tür hinaus, wenn man sie gerade ein Stück
geöffnet hatte.
Wieder mußte sie an Chivas denken, und ein Frösteln
überlief sie.
Sie öffnete die Hintertür und ging wieder hinaus in den
kalten Nachmittag. Sie zog den Reißverschluß der Jacke bis
zum Kinn hoch, aber es half nicht, denn als sie zögernd zum
Kaninchenstall ging, schien ihr ganzer Körper auf einmal vor
Kälte zu zittern.
Kelly stand stumm und blickte durch Tränen auf die
leblosen kleinen Körper, als ihre Schulter die Berührung einer
Hand fühlte. Sie schrak zusammen und fuhr herum, erwartete,
ihre Mutter zu sehen. Als sie Elaine Harris erkannte und ihren
angespannten Ausdruck sah, wußte sie, daß ihr Gefühl sie nicht
getrogen hatte; es war etwas Schreckliches geschehen.
»Ich fürchte, es gibt etwas, was ich dir sagen muß, Kelly«,
sagte Elaine und führte das kleine Mädchen zurück zum Haus.
Kelly ging stoisch neben ihr her, überzeugt, daß sie bereits
wisse, was Mrs. Harris ihr sagen würde.
Stumm hörte sie zu, als Elaine Harris ihr mit stockender
Stimme eröffnete, daß ihre Eltern und ihr Bruder tot seien.
Kellys Augen sahen Elaine groß und unverwandt an.
»Es war ein furchtbarer Unfall«, schloß Elaine, nachdem sie
wiederholt hatte, was ihr Mann ihr vor kurzer Zeit mitgeteilt
hatte und woran zu zweifeln sie keinen Grund, hatte. Sie legte
die Arme um Kelly und wollte sie an sich ziehen, aber der
Körper des kleinen Mädchens blieb steif. »Wir wissen nicht
genau, wie es dazu gekommen ist, und ich bin nicht sicher, daß
wir es je erfahren werden. Aber deine Mama und dein Papa
versuchten deinem Bruder zu helfen. Er – nun, er war krank,
und sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen.«
Endlich erschütterte ein Schluchzen den kleinen Körper, und
Kelly sank gegen Elaine.
Elaine sagte einstweilen nichts, sondern hielt Kelly mit den
Armen umfangen, und die Tränen schossen ihr in die Augen,
als sie spürte, wie das Kind den Verlust annahm. »Es wird alles
gut werden«, versicherte sie Kelly. »Dein Onkel Jerry und ich
werden dich bei uns aufnehmen, und du wirst dich nie um
irgend etwas sorgen müssen.«
Sie hielt Kelly noch eine kleine Weile an sich gedrückt,
dann machte sie sich behutsam los und führte das Mädchen aus
dem Haus. »Laß uns jetzt gehen«, sagte sie in freundlichem
Ton. »Wir fahren zu unserem Haus und kommen später zurück
und holen deine Sachen. In Ordnung?«
Kelly nickte
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