Bestien
Blöße konnte Tiffany nicht widerstehen. »Es gibt ja
auch keine kleineren Jungen«, sagte sie, »es sei denn, die aus
der Grundschule.« Als sie sah, wie in Lindas Augen Tränen
schimmerten, gab sie nach. »Entschuldige. Natürlich werde ich
sagen, daß du in der Bücherei gewesen bist. Und grüß ihn von
mir, ja?«
Linda nickte, machte kehrt und eilte aus dem Schulhaus.
Zwanzig Minuten später betrat sie das kleine Bezirkskrankenhaus. Außer einer Mexikanerin mit blassem Gesicht
und müden, eingesunkenen Augen war der Warteraum
verlassen. Da der Empfangsschalter momentan nicht besetzt
war, blickte sie ungewiß umher, dann läutete sie am Klingelknopf neben dem Empfangsschalter.
»Die Schwester ist in Ricardos Zimmer«, sagte die
zerbrechlich wirkende Frau. »Sie wäscht meinen Sohn.«
Linda wandte sich der Frau zu, erkannte sie, wußte aber
nicht, was sie zu ihr sagen sollte. Bevor ihr etwas einfiel,
erschien Susan Aldrich, die Stationsschwester. »Alles erledigt,
Mrs. Ramirez«, sagte sie, nickte dann Linda zu. »Hallo. Was
bringt dich hierher?« Ihr Blick ging unwillkürlich zur Uhr.
»Es ist Mittagspause«, sagte Linda. »Ich wollte zu Mark.«
»Mark?« Die Schwester mußte sich einen Moment
besinnen. »Ah, du meinst Mark Tanner. Er ist nicht hier.«
Linda sah die Schwester verwirrt an. »Aber … aber er
wurde gestern abend hierhergebracht.«
Susan Aldrich nickte. »Und heute früh ist er fort, also kann
es mit ihm nicht sehr schlecht aussehen.«
Linda konnte es kaum glauben. Sie erinnerte sich des
flüchtigen Blickes, den sie am vergangenen Abend auf Mark
hatte werfen können, als sie ihn aus dem Behandlungsraum
gefahren hatten, das Gesicht geschwollen und von Blutergüssen entstellt, die Brust mit einem dicken Stützverband
umwickelt. »Aber wohin ist er gegangen?« hauchte sie.
»Nach Haus, nehme ich an«, antwortete die Schwester. »Ich
könnte nachsehen, wenn du willst. Er war bereits entlassen, als
ich heute früh den Dienst antrat.«
Linda schüttelte den Kopf. Wenn sie sich beeilte, blieb ihr
noch Zeit, bei den Tanners vorbeizugehen, hallo zu sagen und
zur nächsten Stunde wieder in der Schule zu sein.
Sharon Tanner kam eben aus dem Haus, als Linda des Weges
kam. »Hallo!« begrüßte sie das Mädchen. »Du hast mich
gerade noch rechtzeitig erwischt; ich will zum Krankenhaus.«
Sie hielt ein paar Zeitschriften und ein Buch in die Höhe.
»Inzwischen wird Mark sich mit dem Fernseher langweilen,
nicht?«
Linda glotzte sie an. Wovon redete sie? »Ist er denn nicht
hier?« fragte sie. »Ich war gerade im Krankenhaus, und sie
sagten mir, er sei heute früh entlassen worden!«
Nun war es Sharon, die ihr Gegenüber einfältig anstarrte. Es
mußte ein Irrtum sein. Als sie das Krankenhaus verlassen hatte,
war sie mit Dr. MacCallum übereingekommen, daß Mark
frühestens am Abend entlassen würde. »Aber das kann nicht
sein!« entgegnete sie. »Er muß dort sein. Mit wem hast du
gesprochen?«
Linda berichtete von ihrem Besuch im Krankenhaus. Als
Sharon zuhörte, umwölkte sich ihr Blick sorgenvoll, aber sie
hielt an der Idee fest, daß es ein Irrtum sein müsse. »Komm
mit«, sagte sie zu Linda und kehrte um. »Ich werde im
Krankenhaus anrufen und diese Sache klären. Mein Gott«,
fügte sie mit einem spröden Auflachen hinzu, »sie können ihn
nicht verloren haben, nicht wahr?«
Fünf Minuten später, als sie endlich mit Dr. MacCallum
verbunden war, lachte sie nicht mehr. »Aber warum wurde ich
nicht verständigt?« verlangte sie zu wissen. »Ich habe mit Dr.
Ames nicht einmal gesprochen!« Sie lauschte ungeduldig, als
MacCallum erklärte, was geschehen war. »Aber das ist doch
lächerlich«, protestierte sie, als er geendet hatte. »Sie sagten
selbst, daß ihm nichts Ernstliches fehle. Und warum sollte er
einen Sportarzt benötigen? Er wurde verprügelt, nicht in einem
Footballspiel verletzt.«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte MacCallum. »Ich kann Ihnen
nur sagen, daß der Überstellungsbescheid die Unterschrift Ihres
Mannes trug. Ich verglich sie sogar mit dem Aufnahmeformular, das er gestern abend hier ausfüllte, nur um sicher zu
sein. Es kam mir nicht in den Sinn, daß er Sie heute morgen
nicht verständigt haben sollte, sonst hätte ich Sie selbst
angerufen.«
Als Sharon endlich auflegte, hatte hitziger Zorn ihre
Besorgnis verdrängt. Daß ihr Mann den Jungen in ein anderes
Krankenhaus überstellen ließ, ohne ihr ein Wort davon zu
sagen – das war empörend!
Sie setzte Linda Harris vor
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