Bestien
ziehen
Sie ihn an. Wenn er aufwacht, wird er sich an nichts erinnern.«
Ein ironisches Lächeln verzog seine Lippen. »Tatsächlich«,
sagte er, »wird er sich wahrscheinlich so wohl fühlen wie noch
nie in seinem Leben.«
Anfangs war Sharon Tanner nicht sicher, daß sie am rechten
Ort war. Sie hatte die drei Kilometer aus der Stadt beinahe
unbewußt zurückgelegt, war einfach der Straße gefolgt,
während ihr Zorn – größtenteils auf Blake konzentriert – in ihr
wuchs. Wie konnte er so etwas tun, ohne sie zu fragen, ohne
sie auch nur zu unterrichten? Es sah ihm nicht ähnlich;
überhaupt nicht. Doch während ihr Zorn noch zunahm,
beantwortete der rationale Teil ihres Denkens die eigene Frage.
Hätte er ihre Zustimmung gesucht, so würde sie einfach
angenommen haben, daß es ein weiterer Schachzug in seiner
gegenwärtigen Strategie sei, Mark in den Sportbetrieb hineinzudrängen, und hätte automatisch Einspruch erhoben.
Und mit Recht.
Sie bremste abrupt und starrte zu dem Gebäude hinüber, das
sich rechts zu Füßen der Talhänge erstreckte. Es glich mehr
einem Schulgelände als einer Klinik und war umgeben von
gepflegten Rasenflächen. Dann aber, als sie näher kam, merkte
sie, daß es nicht bloß Rasenflächen waren, sondern Spielfelder,
eines neben dem anderen. Mindestens zwei Footballplätze, ein
Baseballplatz und ein Hockeyfeld. Es gab auch einen
Leichtathletikplatz mit einer 400-m-Bahn, einer Serie hoher
und niedriger Hürden, einer Weitsprung- und einer Hochsprunganlage, ferner Einrichtungen zum Kugelstoßen und
Diskuswerfen.
In der Mitte dieser Anordnung befand sich das breit
hingelagerte Gebäude, doch zwischen ihr und diesem Gebäude
gab es ein geschlossenes Tor. Sie fuhr heran, hielt, kurbelte das
Fenster herunter und drückte auf einen Knopf an einem
Metallkasten, der auf einem eisernen Pfosten befestigt war.
Einen Augenblick später krächzte eine Männerstimme aus
einem Lautsprecher in dem Kasten: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte zu Dr. Ames«, sagte Sharon etwas lauter, als
sie beabsichtigt hatte. »Mein Name ist Sharon Tanner. Ich bin
Mark Tanners Mutter.«
»Augenblick, bitte«, erwiderte die Stimme. Der Lautsprecher verstummte. Sekunden vertickten, und nach einer
Minute begann Sharon sich zu fragen, ob sie wirklich am
rechten Ort sei. Sie überlegte, was sie tun sollte, als der
Lautsprecher wieder anging; gleichzeitig öffneten sich die
Torflügel.
»Halten Sie vor dem Gebäude und benutzen Sie den
Haupteingang, Mrs. Tanner«, instruierte sie die körperlose
Stimme.
Sie nahm den Fuß von der Bremse und fuhr langsam die
Zufahrt hinauf, trotz ihrer Verärgerung beeindruckt von dem,
was sie sah. Es war ein anmutiges Gebäude, das sich gut in die
Umgebung der bewaldeten Talhänge und Berge einfügte, und
was immer dort getrieben wurde, es war offensichtlich
erfolgreich. Sie stellte den Wagen ab, lief die breiten Stufen
hinauf und stieß sich durch die schwere Glastür in die
Eingangshalle. Eine lächelnde Frau, die einen offenen
Arztkittel über einem Schneiderkostüm trug, erwartete, sie.
»Mrs. Tanner?« fragte sie, und fuhr dann fort, ohne auf eine
Antwort zu warten: »Ich bin Marjorie Jackson, Dr. Ames’
Assistentin. Bitte kommen Sie mit mir.«
Sharon preßte die Lippen zusammen, aber trotz ihres
Dranges, dem angestauten Zorn Luft zu machen, schien ihr
nichts übrig zu bleiben, als der Frau gehorsam durch die
Eingangshalle und eine Art Speiseraum und von dort durch
einen Korridor in einen Seitenflügel des Gebäudes zu folgen.
»Es wirkt alles furchtbar leer, nicht wahr?« sagte Marjorie
Jackson mit einem Blick über die Schulter. »Aber Sie sollten
das Haus während der Sommersaison sehen. Im letzten
Sommer mußten wir die Jungen in zwei Schichten füttern!«
Sharon wurde in ein Büro geführt, und Marjorie Jackson
setzte sich hinter einen Schreibtisch. »Ich nehme an, Sie sind
hier, um …« Sie hielt inne, um auf eine Akte vor ihr auf dem
Tisch zu blicken. »… Mark zu sehen, nicht wahr?«
»Ich bin nicht nur deswegen hier«, erwiderte Sharon kühl.
Sie war erfreut, Marjorie Jacksons Lächeln in Ungewißheit
verblassen zu sehen.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie, »aber ich fürchte,
ich verstehe nicht. Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nicht in Ordnung?« wiederholte Sharon, nicht länger
bemüht, ihren Zorn zu verbergen. »Warum sollte etwas nicht in
Ordnung sein? Ich verließ meinen Sohn heute früh im
Bezirkskrankenhaus, und zur Mittagszeit erfahre ich, daß
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