Bestimmt fuer dich
Weinen von Kindern heran.
Rosanna war noch nie hier gewesen, auch wenn sie das Viertel kannte und auf dem Stadtplan oft betrachtet hatte. Lars und sie wären hierhergezogen, hätte er Rosannas Wunsch rechtzeitig nachgegeben. Mit den großen Vorgärten, hübschen Häusern und den von vielen Bäumen gesäumten Straßen schien hier die Welt noch in Ordnung zu sein, zumindest auf den ersten Blick.
Ein stechender Schmerz durchzuckte Rosannas Knöchel und strahlte bis zum Knie hinauf, als sie umknickte und auf den Bürgersteig stürzte. Ihre Handflächen brannten vom Aufprall, genauso wie ihre Knie. Toll, dass sie ausgerechnet heute einen Rock angezogen hatte! Als Rosanna aufstehen wollte, tat ihr Fuß so weh, dass sie sich sofort wieder hinsetzte. Aus der aufgeschürften Haut auf ihren Knien und ihren Händen trat bereits Blut aus. Verärgert betrachtete sie die Stelle, wo der Asphalt aufgebrochen und zur Stolperfalle geraten war. »Alles in Ordnung?«
Rosanna drehte ihren Kopf zu jenem Haus um, vor dem sie hingefallen war. Eine Frau, die ein paar Jahre jünger war als sie, stellte die Gießkanne ab, mit der sie eben noch ihr Rosenbeet gewässert hatte, und eilte heran.
»Der harte Winter und das Salz«, erklärte sie und deutete auf das Loch im Bürgersteig. »Ich habe schon x-mal bei der Stadt angerufen, und immer versprechen die, jemanden vorbeizuschicken. Bevor noch was passiert.«
»Ich hätte besser aufpassen müssen«, sagte Rosanna und versuchte wieder aufzustehen. Ohne den sanften Griff der Frau um ihren Oberarm wäre sie gleich wieder zusammengesackt. Ihr Knöchel schwoll bereits an.
»Tut mir wirklich leid«, beteuerte die Frau. »Am besten kommen Sie mit ins Haus und legen den Fuß ein bisschen hoch.«
»Nicht nötig«, log Rosanna, aber auch für ihre inzwischen blutigen Handflächen und die aufgescheuerten Knie versprach die Frau schnelle Hilfe. Ihr Lächeln war so ehrlich und voller Wärme, dass Rosanna sich nicht weiter wehrte. Die Frau legte einen Arm um Rosannas Schultern und führte sie die wenigen Meter durch den bunt blühenden, gepflegten Vorgarten zum Eingang des makellos weiß gestrichenen Hauses mit den blauen Fensterläden.
1 9
»Willst du gar nicht fragen, wie’s mir geht?«, erkundigte sich Fritz gelangweilt, nachdem er sich eine gefühlte Stunde lang Lukas’ Ärger über seine Ressortchefin und seinen angedrohten Nachfolger Dominik angehört hatte.
»Wie geht’s dir denn?«, fragte Lukas und lächelte.
»Blendend.« Fritz fuhr sich mit einer ironisch affektierten Geste durch sein langes, dünnes weißes Haar, das an einer Seite noch vom Schlafen abstand, und deutete mit dem Daumen über seine Schulter zu einem Bett, in dem ein ausgezehrter, mit Alters flecken übersäter Mann besorgniserregend schnarch te. »Wo ich doch jetzt wieder einen Zellengenossen hab, den ich überleben kann.«
»Regelmäßige Gesellschaft tut dir bestimmt gut.«
»Und wie! Besonders wenn es jemand ist, der seine Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle hat.«
Lukas wusste nicht, was er sagen sollte. Weitere Beschönigungen seiner Lebensumstände hätten Fritz zu Recht nur herausgefordert. Stattdessen zog Lukas sein Diktiergerät aus der Jackentasche.
»Soll das ein Witz sein?«, knurrte Fritz.
»Wieso?«
»Du wirst keinen Artikel über mich veröffentlichen. Und ein ganzes Buch erst recht nicht.«
»Und das weißt du, weil …«
Fritz gähnte bloß mit weit offenem Mund.
»Nur zu deiner Beruhigung –«
»Ich muss nicht beruhigt werden.«
»Dann zu deiner Information: Selbst wenn ich derzeit Probleme mit meinem Arbeitgeber habe, werde ich trotzdem jemanden für deine Lebensgeschichte interessieren.«
»Ist mir egal. Und das meine ich nicht in der für dich typischen selbstmitleidigen, passiv-aggressiven Art und Weise, sondern ganz ehrlich.«
Lukas schüttelte den Kopf. »Nur weil dir angeblich nichts mehr wichtig ist –«
»Ist es wirklich nicht. Hätte ich sonst so lange überlebt?«
Lukas seufzte und wandte seinen Blick ab. Fritz machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist das Geheimnis eines langen Lebens: Es muss einem einfach alles scheißegal sein. Irgendwas zu bedauern macht nur krank und hässlich.«
Fritz lächelte gelassen. Dann rülpste er laut genug, dass sein Zimmergenosse mit dem Schnarchen aufhörte und ihm einen angewiderten Blick zuwarf.
»Hauptsache, einer hier hat Spaß«, bemerkte Lukas.
Fritz schwieg. Sein Blick ging nachdenklich ins Leere.
Nach einer Weile
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