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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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den ich kenne. So habe ich beschlossen, mir ein Telefonbuch von London schicken zu lassen. Und zu welchem Zweck glauben Sie? Er machte eine Pause, schenkte mir und sich Tee ein und sagte: ich schlug irgendeine Seite auf, nachher stellte ich fest, es ist die Seite zweihundertdrei und drückte, und zwar mit geschlossenen Augen, den Zeigefinger meiner rechten Hand auf eine Stelle. Als ich die Augen aufmachte und genau hinschaute, sah ich, daß meine Fingerspitze auf den Namen Sarah Slother gedrückt war. Mir ist es egal, sagte er, wer diese Sarah Slother ist, die Adresse ist Knightsbridge 128. Dieser Adresse, gleich, wer oder was sich dahinter verbirgt, vermache ich alles, was ich habe. Mein lieber Nachbar, das verschafft mir die höchste Befriedigung. Im übrigen habe ich den juristischen Teil dieser kuriosen Angelegenheit schon erledigt. Wenn wir es genau überlegen, können wir doch nicht einem einzigen Menschen, den wir kennen , etwas vermachen, sagte er. Jedenfalls ich nicht. Ich war ganz fasziniert von dem Alten, ich hatte ihm so etwas nicht zugetraut. Aber er hatte die Wahrheit gesagt. Alles andere an diesem Nachmittag, der sich dann mit dem üblichen Altersgeschwätz hingezogen hat bis in die Nacht, war nichts mehr gegen diese seine Mitteilung. Aber schweigen Sie darüber, hat er zu mir gesagt, ich habe keinem Menschen etwas davon gesagt. Und es ist tatsächlich kein Scherz. Sie sind der einzige Mensch, von dem ich weiß, daß er, was ich ihm gesagt habe, für sich behalten wird. Ich bin ganz erleichtert. Immerhin, sagte er, Sie wissen, was auf diese Slother zukommt. Mein Gott, hatte er noch gesagt, bin ich hinterhältig und hatte offensichtlich seine Freude an dieser Hinterhältigkeit. Als ich nachhause ging, war ich nicht nur nicht abgebracht von meinem Reiseplan, er erschien mir aufeinmal gar nicht mehr als ein absurder, im Gegenteil, hatte ich plötzlich dasGefühl, ich könne mir keinen besseren Dienst erweisen, als so schnell als möglich abzureisen und natürlich nach Palma. Ich hatte aufeinmal den erfrischenden Gedanken, mich im letzten Moment aus meiner Gruft hinauszukatapultieren, im allerletzten Moment und ich dachte, so sehr ich sie verfluche, wieder hatte meine Schwester den richtigen Gedanken. Ich war aufeinmal ganz besessen von meinem Reiseplan. Auch der Alte in Niederkreut hatte mir aufeinmal wieder die Augen geöffnet, die solange geschlossen waren. Hatte ich ihn aufgesucht, damit er mich von meinem Reiseplan abbringt, so hat er mich im Gegenteil gerade auf diesen Reiseplan hin halb verrückt gemacht. Aus der ganzen Gegend mußt du fort, nicht fortwährend nachdenken, wie dich ablenken, durch alle möglichen und unmöglichen Leute in der Nachbarschaft etcetera, sondern abreisen, weggehen, so bald als möglich. Meine Schwester, die verfluchte, hatte wieder einmal einen guten Riecher gehabt. Ich hatte aber immerhin auch die Wahl, für einige Zeit nach Wien zu gehen, ich muß ja nicht in die Wohnung meiner Schwester, sagte ich mir, ich kann ins Elisabeth gehen oder in den König von Ungarn , aber soviel ich auch an Wien dachte, Palma beherrschte mich doch vollkommen. Was habe ich in Wien, fragte ich mich und allein wenn ich mir die Namen aller jener vergegenwärtigte, die ich in Wien kenne, graust es mich, mit ganz wenigen Ausnahmen und diese Ausnahmen kamen entweder wegen Krankheit nicht mehr in Frage, oder weil sie längst gestorben sind. Jahrelang hatte ich ja den Paul Wittgenstein, den Neffen des Philosophen, aber der starb endlich, muß ich sagen, an seiner jahrelangen qualvollen Krankheit am Ende doch gerade zu dem richtigen Zeitpunkt, in welchem Wien eigentlich für ihn nichts mehr gewesen ist. Er war schon Jahrzehnte durch Wien gegangen und es hatte mit ihm nichts mehr zu tun. Niemand war so gescheit wie er, keiner war so poetisch, so unbestechlich in allem. Jetzt wo ich ihn verloren habe, habe ich selbst in Wien nichts mehr verloren. Ich habezwanzig Jahre ununterbrochen in Wien gelebt, wahrscheinlich meine beste, gleichzeitig meine schönste Zeit, aber diese Zeit ist unwiederholbar, alles heutige ist dagegen nurmehr noch ein dürftiger Aufguß, den mitzumachen ich mich zu schämen habe. Wien ist heute eine durch und durch proletarisierte Stadt, für welche ein anständiger Mensch nurmehr noch Spott und Hohn und die tiefste Verachtung übrig haben kann. Was in ihr groß oder auch nur beachtenswert gewesen ist, verglichen mit der übrigen Welt, ist längst tot, die Gemeinheit und die
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