Betrogen
nichts mehr auf dem Tisch stand und das Geschirr im Spülwasser eingeweicht war. »Die spüle ich später fertig«, meinte Longtree. »Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?«
»Nein, danke. Ich muss auch versuchen, eine Mütze Schlaf zu bekommen.« Trotzdem machte er keine Anstalten, zu der Tür zu gehen, die zu den anderen Räumen des Hauses führte. Stattdessen setzte er sich wieder an den Tisch. Longtree setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl und wartete ab.
Beim Blick in die Augen des anderen Mannes war Chief nicht wohl zu Mute. »Damit habe ich nicht gerechnet.«
»Damit?«
Chief sah sich in der Küche um. »Ich hatte erwartetâ¦Â«
Longtrees schmale Lippen hoben sich auf einer Seite zu einem halben Lächeln. »Etwas Hübscheres.«
»Ich habe Sie für reich gehalten.«
»War George Abbotts Idee.«
»Ich verstehe«, sagte Chief, obwohl erâs nicht tat.
»George wollte auf Sie einen guten Eindruck machen. Er dachte, wir würden Sie leichter gewinnen, wenn wir nicht so ärmlich daherkämen. Wir haben unsere Ersparnisse zusammengelegt, um mir den neuen Anzug zu kaufen. Reine Geldverschwendung. Wo soll ich den tragen?« Wieder lächelte er. »Vermutlich bei meinem eigenen Begräbnis.«
»Wovon leben Sie?«
»Ich habe Jura studiert, aber meine Mandanten sind arm. Ich besitze eine kleine Rinderherde.«
»Leben Sie hier allein?«
»Meine Frau ist vor sechsundzwanzig Jahren gestorben.«
Chief senkte den Blick. Er ärgerte sich, weil er etwas angesprochen hatte, das Longtree offensichtlich viel Kummer bereitete. Nähere Erläuterungen erwartete er nicht. Umso überraschter war er, als Longtree fortfuhr:
»Sie war mit unserem ersten Kind schwanger. Bis die Wehen einsetzten war die Schwangerschaft gut und unkompliziert verlaufen. Ich brachte sie rechtzeitig in die Reservatklinik, wo sich herausstellte, dass es eine schwierige Geburt werden würde. Für einen derartigen Notfall war die Klinik schlecht eingerichtet und auÃerdem unterbesetzt. Seit Jahren hatte der Rat Petitionen um Gelder zur Verbesserung und Modernisierung eingereicht, aber unsere Bitte wurde wiederholte Male abschlägig beschieden.«
»Der Zustand meiner Frau verschlechterte sich rapide. Für eine Verlegung in eine andere Klinik war nicht mehr genug Zeit. Auch ein Gynäkologe lieà sich nicht mehr rechtzeitig herbeischaffen. Ich musste hilflos mitansehen, wie sie vor meinen Augen verblutete. Mein Sohn wurde mit Kaiserschnitt entbunden,
aber die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt. Er hat nie geatmet. Ich habe beide zusammen begraben.«
Nur das ungewöhnlich laute Ticken der Wanduhr unterbrach ihr Schweigen. SchlieÃlich regte sich Chief als erster. »Tut mir Leid, dass ich Sie wieder daran erinnert habe.«
»Muss es nicht. Eine Weile war ich etwas verrückt, habe mich aber wieder gefasst. Irgendwann. Auch heute noch flammt seither bei jedem Gedanken daran mein Entschluss wieder auf, das Leben in den Reservaten zu verbessern. Ich glaube, durch ihren Tod halten die Geister meinen Entschluss am Leben.«
Chief musterte Longtree intensiv. Er sah einen Mann mit festen Anschauungen. Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen? Warum hatte er nicht am teuren Anzug vorbei ins Herz des Trägers geschaut? »Warum haben Sie mich an Ihre Verkleidung glauben lassen?«
»Sie diente unserem Zweck, allerdings nicht so, wie George es geplant hatte. Danach war ich froh, dass ich diesem kleinen Betrug zugestimmt habe, denn ihre Reaktion enthüllte den Charakter, den ich in Ihnen zu finden gehofft hatte. Offensichtlich waren Sie ein durch und durch integrer Mensch.«
Chief lachte leise verächtlich auf. »Sie haben einige wunde Stellen berührt und mich zum Nachdenken gebracht.«
Longtree nickte zustimmend. »Ihre Meinung über mich sollte nie und nimmer die Basis Ihrer Entscheidung sein, egal, ob sie positiv ausfällt oder nicht. Ich bin nun mal überzeugt, dass man Sie uns geschickt hat. Zur Unterstützung unserer Interessengruppe. Damit wir mit Ihrer Hilfe die Ureinwohner Amerikas ins einundzwanzigste Jahrhundert bringen, ohne unseren Stolz, unsere Würde und unser Erbe einzubüÃen.
Einige meinen, wir könnten Ersteres nicht ohne den Verlust des Letzteren erreichen. Ich nicht. Ich glaube nicht daran, dass wir auf dem Weg in die Zukunft unser
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