Bettler 01 - Bettler in Spanien
verständnislose Blicke austauschten. Und dann zerplatzte die Seifenblase. Er konnte sie nicht festhalten. Sie war nicht ganz verschwunden, sie existierte immer noch und kam auch zurück, aber er konnte sie nicht mehr festhalten. Seine Beine waren kaputt, und er würde nie mehr laufen können, und so fing er an zu weinen – ein Zehnjähriger, festgeschnallt auf einem Krankenhausbett in einem Zimmer voller Leute, die niemals schliefen.
18
»Unser nächster Bericht: Ein Land des tiefsten Friedens«, sagte der Sprecher, »die Vereinigten Staaten im dreihundertsten Jahr ihres Bestehens. Eine CNS-Sondersendung, die alle Hintergründe ausleuchtet.«
»Ha!« sagte Leisha. »Die wären nicht mal fähig, die Hintergründe eines Kochwettbewerbs auszuleuchten!«
»Schsch! Ich möchte zuhören«, sagte Alice. »Drew, reich mir die Brille vom Tisch.«
Sie formten einen Halbkreis um das Hologerät – sechsundzwanzig grundverschiedene Menschen, die saßen oder standen oder an den weißgekalkten Wänden lehnten. Drew reichte Alice ihre Brille. Leisha wandte die Augen eine Minute lang von der lächerlichen Sendung ab, um ihn anzusehen. Er saß nun seit einem Jahr im Rollstuhl und bewegte sich so souverän damit wie mit einem Paar Schuhe. In den Monaten im Internat der Schule war er zwar gewachsen, jedoch genauso mager geblieben wie vorher. Er war jetzt stiller, ging weniger aus sich heraus – aber war das nicht normal für einen Jungen, der bald in die Pubertät kommen würde? Drew schien in Ordnung zu sein; er hatte sich an den Rollstuhl gewöhnt und auf sein neues Leben eingestellt. Leisha wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hologerät zu.
Es repräsentierte die allerneueste Macher-Technik, ein flaches Rechteck, das an der Decke befestigt und mit zahllosen Öffnungen und Ausbuchtungen übersät war. Es projizierte die Sendung in dreidimensionalen, anderthalb Meter hohen Hologrammen auf die Holobühne darunter. Die Farben waren stets lebhafter als in Wirklichkeit, die Konturen hingegen weniger scharf, so daß alle Bilder das leuchtende, weiche Aussehen von Kinderzeichnungen annahmen.
»Heute vor dreihundert Jahren«, begann der außergewöhnlich gutaussehende Sprecher, sichtlich ein GenMod. Er trug eine makellose Uniform der Armee George Washingtons, »unterzeichneten die Gründerväter unseres Landes das historisch bedeutsamste Dokument, das die Welt je gekannt hat: Die Unabhängigkeitserklärung. Die alten Worte berühren uns immer noch: ›Wenn sich im Laufe der Geschichte für ein Volk die Notwendigkeit ergibt, die politischen Bande zu lösen, die es bislang an ein anderes geknüpft haben, und unter den Mächten der Erde jene eigenständige und gleichberechtigte Stellung einzunehmen, die ihm nach den Gesetzen Gottes und der Natur gebührt, so verlangt es die ihm wohlanstehende Achtung vor der Meinung der Menschheit, daß es die Gründe darlegt, die es zu dieser Loslösung zwingen. Wir halten es für selbstverständliche Wahrheiten, daß alle Menschen gleich geschaffen wurden…‹«
Alice schnaubte verächtlich. Leisha warf ihr einen besorgten Blick zu, aber Alice lächelte.
»… daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden – unter diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück…«
Drew machte ein finsteres Gesicht. Leisha fragte sich, ob er überhaupt wußte, was die Worte bedeuten sollten; seine Schulnoten waren nicht imponierend ausgefallen. Eine dünne Decke lag über seinen Beinen. Am anderen Ende des Raums lümmelte Eric dumpf und verdrießlich an der Wand. Er sah Drew jetzt nie mehr direkt ins Gesicht, aber Drew, das hatte Leisha bemerkt, schien sich geradezu übertriebene Mühe zu geben, seinen Rollstuhl zu Eric zu lenken, mit ihm zu sprechen und sein hinreißendes Lächeln auf ihn zu richten. Rache? So subtil? Bei einem Elfjährigen? Wille zur Versöhnung? Bedürfnis? »Alles zusammen«, hatte Alice spröde bemerkt, »aber du hattest noch nie einen besonderen Sinn für Inszenierungen, Leisha.«
Der pittoreske Sprecher beendete die Unabhängigkeitserklärung und verschwand. Es folgten Szenen von Feiern zum Vierten Juli aus dem ganzen Land: Nutzer beim festlichen Grillen von SojSynth in Georgia; eine Parade von rot-weiß-blauen Motorrollern in Kalifornien; ein Macherball in New York, bei dem die Damen die neuen strengen Abendkleider aus Seide trugen, die völlig gerade herabfielen, die aber mit kunstvollen Krägen und Manschetten aus schwerem,
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