Bettler 01 - Bettler in Spanien
Aber nicht für deinen Geist. Erinnere dich immer daran, Miranda.«
Und das tat sie. Sie erinnerte sich immer an alles, an jede winzige Kleinigkeit, die ihr widerfuhr; aber das stimmte wohl nicht ganz, weil sie sich nicht an eine Zeit ohne Tony erinnerte, und Mama und Papa hatten ihr gesagt, daß ein ganzes Jahr verstrich, ehe er ihnen geboren wurde, genau wie sie zuvor. Also mußte es zumindest ein Jahr geben, an das sie keine Erinnerung hatte.
Sie erinnerte sich, als Nikos und Christina Demetrios kamen. Und bald nach den Zwillingen kamen Allen Sheffield und Sara Cerelli. Sie waren sechs, die zusammen unter dem wachsamen Auge von Miss Patterson oder Großmama Sheffield im Kindergarten durcheinanderpurzelten, ihre Eltern daheim in den kuppelförmigen Häusern besuchten und mit Elektroden am Kopf für Doktor Toliveri und Doktor Clement verschiedene Spiele spielten. Sie liebten Doktor Toliveri besonders, weil er immer lachte, aber sie liebten auch Doktor Clement, der nie lachte. Sie liebten alles, weil alles so interessant war.
Ihr Kindergarten befand sich im selben Gebäude wie ein zweiter, und für einen Teil des ›Tages‹ – Miri wußte noch nicht so recht, was genau das Wort bedeutete, nur daß es bei einem ›Tag‹ darauf ankam, etwas zu zählen, und Zählen liebte Miri ganz außerordentlich – wurde die Plastikwand dazwischen zur Seite geschoben. Die Kinder aus dem anderen Kindergarten stürmten in den von Miri oder umgekehrt, und Miri rollte mit Joan über den Boden oder balgte sich mit Robbie um Spielsachen oder stapelte mit Kendall Bausteine zu einem Turm.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem das zu Ende war.
Es begann mit Joan Lucas, die größer war als Miri und lockiges, hellbraunes Haar so glänzend wie die Sterne hatte. Joan sagte zu ihr: »Warum wackelst du denn immer so hin und her?«
»I-I-Ich w-w-w-weiß n-nicht«, sagte Miri. Natürlich war ihr schon aufgefallen, daß sie und Tony und die anderen vier in ihrem Kindergarten zuckten und zappelten, und Joan und die Kinder im anderen Kindergarten nicht. Und Joan stotterte auch nie, wie Miri und Tony und Christina und Allen. Aber Miri hatte keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Joan hatte braunes Haar und Miri schwarzes; Allen war blond. Das Zucken hatte bisher in dieselbe Kategorie gehört.
Joan sagte: »Dein Kopf ist so groß.«
Miri tastete ihn sorgfältig ab; er schien kein bißchen größer als zuvor.
»Ich will nicht spielen mit dir!« sagte Joan abrupt, drehte sich um und ging weg. Miri starrte ihr nach. Miss Patterson war augenblicklich zu Stelle. »Joan, gibt es ein Problem?«
Joan blieb stehen und starrte Miss Patterson an. Alle Kinder kannten diesen Tonfall. Joans Gesichtchen schrumpfte.
»Keine Dummheiten«, sagte Miss Patterson. »Miri ist ein Mitglied deiner Gemeinschaft und von Sanctuary. Du wirst jetzt mit ihr spielen.«
»Ja, Miss Patterson«, sagte Joan. Keines der Kinder wußte so richtig, was eine Gemeinschaft war, aber wenn die Erwachsenen das Wort aussprachen, dann gehorchten sie. Joan griff nach der Puppe, die sie und Miri gerade begonnen hatten anzuziehen. Aber Joans Gesicht blieb geschrumpft, und nach einer Weile wollte Miri nicht mehr spielen.
Daran erinnerte sie sich auch.
Jeden ›Tag‹ hatten sie Unterricht, drei Kindergartengruppen, die in der Gemeinschaft lernten. Miri erinnerte sich lebhaft an den Moment, als sie erkannt hatte, daß ein Terminal nicht nur dazu da war, um ihm zuzuhören oder zuzusehen, sondern daß man es dazu bringen konnte, etwas zu machen. Man konnte es dazu bringen, daß es einem Antworten gab. Sie fragte es, was ein ›Tag‹ war, warum die Zimmerdecke oben war, was Tony zum Frühstück gegessen hatte, wie alt Papa war, wie viele Tage es noch waren bis zu ihrem Geburtstag. Das Terminal wußte alles. Es wußte mehr als Großmama und Mama und Papa. Es war sehr gescheit. Es trug einem auch auf, gewisse Dinge zu tun, und wenn man sie richtig machte, zeigte es einem ein lachendes Gesicht, und wenn nicht, dann mußte man es noch mal versuchen.
Sie erinnerte sich an den Tag, als sie bemerkte, daß das Terminal sich manchmal irrte.
Es war Joan, die Miri darauf brachte. Sie arbeiteten zusammen an einem Terminal, was sie alle einen Teil des Tages – jetzt kannte sie die Bedeutung des Wortes – tun mußten, weil sie eine Gemeinschaft waren. Miri arbeitete nicht gern mit Joan zusammen; Joan war sehr langsam. Alleingelassen hing Joan noch immer an der zweiten Aufgabe fest, wenn Miri
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