Bettler 01 - Bettler in Spanien
möglichen rechtlichen Szenarien durch: Alternative eins – Sanctuary stellte eine Geburtsurkunde aus und kreuzte darin statt des Kästchens für ›Schläfer‹ das Kästchen für ›Schlafloser‹ an; achtzig Jahre mochten vergehen, ehe das Kind an frühzeitiger Altersschwäche starb und die Regierung eine Autopsie verlangte. Aber das Kind würde mit sieben Jahren die zwingend vorgeschriebenen Tests der Schulbehörde des Staates New York ablegen müssen. Über wie viele Normdaten verfügten die Bettler da unten tatsächlich? Reichten sie aus, um Schläfer von Schlaflosen unterscheiden zu können? Und dann gab es noch den Netzhaut-Scan, der den eindeutigen Beweis für eine Schläferidentität erbringen würde – jedoch bei sehr kleinen Kindern kein schlüssiges Ergebnis brachte. Alternative zwei…
Mit Unterstützung von Will und Perrilleon brachte Jennifer die Diskussion immer wieder auf den Punkt zurück, um den es eigentlich ging: um das Wohl der Gemeinschaft gegenüber dem Wohl eines Einzelnen, der für immer ein Außenseiter bleiben würde. Nicht nur ein Außenseiter, sondern darüber hinaus ein Keil, der die Einigkeit der Gemeinschaft sprengen würde, ein möglicher Ansatzpunkt für fremde Behörden, in Sanctuary einzudringen, ein Mensch, der nie die gleiche Produktivität in die Gemeinschaft einbringen würde wie die anderen. Der sein Leben lang mehr nehmen als geben würde.
Ein Bettler.
Das Abstimmungsergebnis lautete acht zu sechs.
»Aber ich werde nicht diejenige sein, die es tut«, sagte die junge Ärztin plötzlich. »Ich nicht.«
»Das müssen Sie auch nicht«, erklärte Jennifer. »Mir obliegt die Geschäftsführung von Sanctuary; eine verfälschte Geburtsurkunde hätte meine Unterschrift getragen. Ich werde es tun. Sind Sie sicher, Doktor Toliveri, daß die Injektion Symptome hervorruft, die nicht von plötzlichem Kindstod zu unterscheiden sind?«
Toliveri nickte. Er sah äußerst blaß aus. Ricky betrachtete die Tischplatte. Ratsmitglied Kivenen steckte die Faust in den Mund. Die junge Ärztin sah gequält drein.
Aber keiner von ihnen ließ nach vollendeter Abstimmung ein Wort des Protestes hören. Sie waren eine Gemeinschaft.
Später, als alles vorbei war, weinte Jennifer. Sie empfand sie als demütigend, diese heißen, kargen Tränen, die ihr wie kochendes Salz über die Wangen rollten. Will hielt sie fest, und sie spürte seine starre Zurückhaltung, selbst als er ihre Schulter tätschelte. Das hatte er nicht erwartet. Und sie hatte es auch nicht erwartet.
Aber er bemühte sich. »Liebste, es war völlig schmerzlos für das Kleine. Sein Herz hörte augenblicklich auf zu schlagen.«
»Ich weiß«, sagte sie kalt.
»Dann…«
»Vergib mir. Ich kann nichts dagegen tun.«
Später, als sie wieder zu sich selbst zurückgefunden hatte, machte sie keinen weiteren Versuch einer Entschuldigung. Aber sie sagte zu Will, als sie miteinander unter dem weiten Bogen aus landwirtschaftlichen und technischen Ebenen dahinschlenderten, die den Himmel bildeten: »Schuld haben einzig und allein die Regierungsvorschriften, die uns zum Betrug zwingen, egal, wie wir uns entscheiden. Es ist nur ein weiteres Beispiel für das, was wir schon festgestellt haben: Wären wir nicht Teil der Vereinigten Staaten…«
Will nickte.
Sie gingen zuerst zur Kinderkuppel und besuchten Miranda und dann weiter zu den Sharifi-Labors, Abteilung Sonderaufgaben, die ebenso wichtig waren wie Miranda und die von allen Privatunternehmen unter Sanctuarys stabilem, produktivem Himmel den höchsten Sicherheitsstandard aufwiesen.
Der Frühling war in der Wüste eingekehrt. Feigenkakteen trugen große, gelbe Blüten, und an den seichten Flußläufen leuchteten die Pappeln grün. Sperber, die den Großteil des Winters als Einzelgänger verlebt hatten, hockten paarweise im Geäst. Leisha verfolgte das allgemeine Aufblühen, das hier um so vieles karger und steiniger ausfiel als am Michigansee, und fragte sich spöttisch, ob die Anspruchslosigkeit der Wüste für sie nicht ebensoviel Anziehungskraft besaß wie die Einsamkeit. Hier gab es nichts, was gentechnisch verändert war.
Sie stand vor ihrem Arbeitsterminal, aß einen Apfel und hörte dem Programm zu, das das vierte Kapitel ihres Buches über Thomas Paine vorlas. Der Raum glühte im Sonnenschein. Alices Bett war ans Fenster geschoben, damit sie die Blumen draußen sehen konnte. Leisha schluckte hastig eine Mundvoll Apfel und sagte zum Terminal: »Textänderung: ›Paines
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