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Bettler 01 - Bettler in Spanien

Titel: Bettler 01 - Bettler in Spanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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reine Wahrheit aus: Mama war viel zu schön, um jemanden zu mögen, der zuckte und stotterte und sabberte, und die Wahrheit war von allerhöchster Wichtigkeit in einer Gemeinschaft. »Ich b-b-bin d-d-deine G-G-Gemeinsch-schaft«, erklärte sie Tony, und das erschien ihr eine interessante Feststellung, weil sie sowohl wahr als auch begrenzt wahr war, mit Fädchen zweiter Ordnung und Querverbindungen, die sechzehn Fäden tief hinabreichten und ein Modell bildeten, das von dem, was sie in Mathematik, Astronomie und Biologie gelernt hatte, Gebrauch machte – eine Konstruktion, so herrlich kompliziert und ausgewogen wie die Molekularstruktur eines Kristalls. Das Modell wog fast Tonys Tränen auf. Fast.
    Doch als sie älter wurde, bekam Miri nach und nach das Gefühl, daß ihren Modellen etwas fehlte. Was genau, das konnte sie nicht sagen. Sie hatte eine Unzahl davon für Großmama und Doktor Toliveri angefertigt, bis sie so kompliziert wurden, daß sie es nicht mehr vermeiden konnte, etliches auszulassen. Darüber hinaus bildeten sich jedesmal, wenn sie ein Fadenmodell entwarf, beim Denken und Zeichnen neue Modelle, jedes davon mit mehreren Fadenschichten und Querverbindungen, und es war unmöglich, auch diese dazuzuzeichnen, denn wenn Miri das versuchte, dann entstanden daraus wiederum neue. Zeichnen und Erklären würden nie Schritt halten können mit dem Denken, und Miri wurde zusehends unwilliger, es doch zu versuchen.
    Mit acht Jahren verstand sie die biologischen Hintergründe dessen, was man mit ihr und den anderen Kindern, die so waren wie sie, angestellt hatte. Super-Schlaflose wurden sie genannt. Sie verstand auch, daß keine ihrer Eigenschaften mit den beiden Säulen der Wahrheit, auf denen Sanctuary ruhte, kollidieren durfte: mit der Produktivität und der Gemeinschaft. Produktiv zu sein bedeutete für das Individuum, ein vollwertiger Mensch zu sein. Die Gemeinschaft ehrlich und gerecht an seiner Produktivität teilhaben zu lassen, bedeutete, Stärke und Schutz für alle zu schaffen. Und jeder, der versuchen würde, an einer dieser beiden Säulen zu rütteln – die Vorteile einer Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen, ohne seinen Beitrag in Form von Produktivität zu leisten –, war unanständig, ein wertloser Bettler. Miri schreckte vor dem Gedanken zurück; niemand konnte so verwerflich handeln! Vielleicht auf der Erde, die ja voll war von diesen, wie Großmama sagte, Bettlern in Spanien – von denen einige noch dazu Schlaflose waren. Aber niemals in Sanctuary.
    Die Veränderungen an ihrem Nervensystem – und an dem von Tony, Christina, Allen, Mark und Joanna – waren deshalb vorgenommen worden, um sie alle produktiver zu machen, nützlicher für die Gemeinschaft und für sich selbst, intelligenter, als Menschen je zuvor gewesen waren. Das hatte man ihnen gesagt, auch den Nicht-SuperSchlaflosen, und schließlich akzeptierten es alle. Jetzt spielten Miri und Joan wieder täglich miteinander. Miri war erfüllt von Dankbarkeit.
    Doch so sehr sie Joan auch mochte, so sehr sie Joans lange braune Locken, ihr hohes, süßes Lachen und ihr Talent, Gitarre zu spielen, auch bewunderte, wußte sie doch, daß es ihresgleichen, die anderen SuperSchlaflosen waren, mit denen sie das größte Gemeinschaftsgefühl verband. Sie bemühte sich, das zu verheimlichen, denn es war nicht richtig. Nicht vor Tony, natürlich, denn er war doch ihr Bruder und würde eines Tages zusammen mit ihr und dem Baby Ali – von dem sich, entgegen Großmamas Voraussage, herausgestellt hatte, daß er doch kein Super war – im Hohen Rat der Sharifi-Gruppe angehören und damit einundfünfzig Prozent der Sanctuary -Anteile kontrollieren, zusätzlich zum familieneigenen Vermögen. Das alles gewährleistete, daß sie keine Bettler waren.
    Die wirtschaftliche Struktur von Sanctuary interessierte Miri. Alles interessierte sie. Sie lernte Schach und weigerte sich einen Monat lang, irgend etwas anderes zu tun – das Spiel erlaubte ihr, Dutzende Generationen von Fädchen anzufertigen, die alle eng mit den Fädchen des Gegners verknüpft waren! Doch nach diesem einen Monat verlor Schach seinen Reiz; schließlich gab es dabei nur zwei Garnituren Fäden, auch wenn sie sehr, sehr lang wurden.
    Neurologie interessierte sie noch mehr. Das Gehirn verfügte über hundert Milliarden Neuronen, jedes mit zahlreichen Rezeptoren für Neurotransmitter, von denen so viele Spielarten existierten, daß die Zahl der Fäden, die man konstruieren konnte, nahezu unendlich

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