Bettler 01 - Bettler in Spanien
Drew, alles!«
Der andere Tag kam ihm ins Gedächtnis zurück, der Tag, an dem er zum Krüppel geworden war. Er hatte auf dem Bett gelegen, genau wie jetzt, und Erics Vater hatte sich über ihn gebeugt und gesagt: »Wir werden alles für dich tun, was wir können… alles.« Und er selbst hatte gedacht: »Jetzt hab ich sie beim Wickel!« Die gleichen Formen. Immerzu, während des ganzen Lebens eines Menschen, bekundeten Formen, die sich tief unten in seinem Gedächtnis rührten, mit den Kiemen flatterten und mit den Flossen schlugen, mehr als dieses sein Leben.
»Was, Drew? Was brauchst du?«
»Einen programmierbaren Staunton-Carey-Hologramm-Projektor.«
»Einen…?«
»Ja«, flüsterte Drew mit letzter Kraft. »Jetzt. Ich brauche ihn sofort.«
21
Miri war dreizehn. Seit einem Jahr verfolgte sie die Schläfer-Sendungen von der Erde, sowohl auf den Nutzer-, als auch auf den Macherkanälen. Während der ersten Monate hatten die Programme sie fasziniert, weil sie so viele Fragen aufwarfen: Warum waren Rollerrennen so interessant? Warum wechselten die schönen jungen Männer und Frauen in Gutenachtgeschichten so oft die Sexpartner, wenn sie doch von denen, die sie gerade hatten, so begeistert waren? Warum hatten die Frauen so riesige Brüste und die Männer so große Penisse? Warum hielt eine Kongressabgeordnete aus Iowa einen geharnischten Vortrag über die hohen Ausgaben eines Kongressabgeordneten aus Texas, wenn sie, wie es schien, ebensoviel Geld verschwendete wie er und sie beide nicht einmal derselben Gemeinschaft angehörten? Zumindest schienen sie einander nicht als Angehörige derselben Gemeinschaft zu betrachten. Warum wurde in allen aktuellen Sendungen die Nutzerklasse in den höchsten Tönen für ihr Nichtstun gelobt – ›kreative Muße‹ nannte man es – und nie ein Wort über jene Leute verloren, die arbeiteten, damit das alles funktionierte, noch dazu, wo sich herauskristallisierte, daß die Leute, die für die Arbeit zuständig waren, auch für die Sendekanäle zuständig waren?
Früher oder später entdeckte Miri die Antworten auf diese Fragen, entweder über die Datenbanken oder durch Gespräche mit ihrem Vater oder der Großmutter. Enttäuschend fand sie, daß die Antworten nicht besonders interessant schienen. Rollerrennen waren wichtig, weil die Nutzer sie für wichtig hielten – war das alles? Gab es keinen anderen Standard als das, was im Moment Vergnügen bereitete?
Aus dieser Frage erzeugte ihr Geist lange Fäden, an denen das Heisenbergprinzip, Epikur, eine vergessene Philosophie namens Existentialismus, die Rahvoli-Konstanten für neurale Funktionsstärkung, der Mystizismus, die epileptischen Stürme in den sogenannten ›visionären‹ Zentren des Gehirns, die Sozialdemokratie, die Vorteile staatenbildender Organismen und Äsops Fabeln hingen. Es war ein gut gelungenes Fadengebilde, aber der Teil, den die Sendungen von der Erde lieferten, blieb im Prinzip uninteressant.
Das gleiche galt für die Antworten auf den Rest von Miris Fragen. Politische Organisationen und die Verteilung der vorhandenen Ressourcen hingen von einem sensiblen Gleichgewicht zwischen den Wählerstimmen der Nutzer und den Machtbefugnissen der Macher ab; dieses Gleichgewicht schien jedoch nicht das Ergebnis von Planung oder Grundsätzen zu sein, sondern das einer rein zufälligen sozialen Evolution. In den Vereinigten Staaten war alles so, wie es war, weil es so war. Falls sich dahinter etwas Tiefergehendes verbarg, dann verrieten es die Programme von der Erde nicht.
Miri kam zu dem Schluß, daß dies alles nur für die Vereinigten Staaten zutraf, die verhätschelt waren von billiger Y-Energie, reich aus den Lizenzeinnahmen der zugehörigen Patente, und genauso dekadent, wie Großmutter immer behauptete. Also lernte Miri Russisch, Französisch und Japanisch und verbrachte ein paar Monate damit, die Sendungen in diesen Sprachen zu verfolgen. Die Antworten waren verschieden von den vorangegangenen, aber um nichts interessanter. Dinge geschahen, weil sie eben geschahen; sie standen so, wie sie standen, weil sie nun einmal an diesem Punkt angelangt waren. Kleinere Grenzscharmützel wurden ausgefochten oder auch nicht. Handelsübereinkommen wurden unterzeichnet oder auch nicht. Prominente Schläfer starben, oder sie hatten Operationen und erholten sich wieder. Ein französischer Sprecher, einer der bekanntesten, schloß seine Nachrichtensendung immer mit den gleichen Worten: C a va toujours.
Nirgendwo in
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