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Bettler 01 - Bettler in Spanien

Titel: Bettler 01 - Bettler in Spanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Er sah die Form, das fein ausgewogene Gleichgewicht all der Fragen um Rechte und Vorrechte, mit denen sie sich ihr Leben lang herumgeschlagen und die sie schließlich zu ihrem Leben gemacht hatte. Er sah die fest umrissene, im Grunde strenge Form von Leisha selbst im Kampf mit den zerfledderten übrigen Formen, die Triebe und Pseudopoden aussandten und sich nicht, wie sie es unermüdlich anstrebte, in Grundsätze und Gesetze fesseln ließen. Sogar der Kampf selbst hatte eine Form, und Drew tastete nach einem Wort dafür, aber Worte standen ihm nicht zur Verfügung. Doch Worte hatten ihm selten zur Verfügung gestanden. Das Wort, das am nächsten an das herankam, was er ausdrücken wollte, war ein altmodisches – Ritter –, aber es paßte nicht, es war zu blaß für die Leidenschaftlichkeit von Leishas Kampf um die Codifizierung einer gesetzlosen Welt. Das Wort paßte nicht zur Form. Er runzelte die Stirn. Leisha sagte: »Oh, weine doch nicht, Drew, Liebes!« Er dachte nicht im entferntesten daran, zu weinen! Sie verstand nicht. Wie konnte sie auch? Er verstand selbst nicht, was ihm widerfahren war oder was man ihm zugefügt hatte – was auch immer. Eric hatte ihm weh tun wollen, aber das hier tat nicht weh, das machte Drew nur verstärkt zu dem, was er bereits gewesen war; es ging ihm wie einem Mann, der früher dreitausend Meter lief und jetzt zehntausend schaffte. Er war immer noch er selbst – seine Muskeln, seine Knochen, sein Herz –, aber er war es verstärkt, und diese Verstärkung rückte ihn vom Gewöhnlichen zu… etwas anderen. Zu etwas Außergewöhnlichem. Er wirkte auf sich selbst außergewöhnlich.
    Leisha rief: »Doktor, er kann nicht sprechen!«
    »Er kann«, entgegnete der Arzt kurz angebunden, und seine Formen kehrten flüchtig zurück: Drew sah die hysterisch übersteigerte Erregung, die eigentlich Angst war, und den Triumph, sie nicht zu zeigen. »Die Scannerbilder des Gehirns zeigen keine Schädigung der Sprachzentren.«
    »Sag etwas, Drew!« bettelte Leisha.
    »Du bist so schön.«
    Nie zuvor war es ihm aufgefallen; wie konnte er das nur übersehen haben? Leisha beugte sich über ihn, das Haar so goldblond wie das eines jungen Mädchens, ihr Gesicht geprägt von der Entscheidungsfähigkeit einer Frau in der Blüte ihrer Jahre. Drew sah die Formen, die diese Fähigkeit herangebildet hatten: es waren die Formen der Intelligenz und des Duldens. Wie konnte ihm das früher entgangen sein? Ihre Brüste wölbten sich leicht unter dem dünnen Gewebe ihrer Bluse; ihr Hals erhob sich wie eine warm schimmernde Säule aus dem Kragen – weiß, mit zart bläulichen Vertiefungen. Und er hatte es nie zuvor gesehen. Niemals. Wie schön Leisha war.
    Sie richtete sich etwas auf und zog die Stirn in Falten. »Drew, welches Jahr haben wir? In welcher Stadt wurdest du festgenommen?«
    Er lachte. Das Lachen schmerzte in seiner Brust, und er bemerkte zum erstenmal, daß Streifen aus Heftpflaster über seine Rippen liefen und daß seine Arme immer noch festgeschnallt waren. Eric trat ins Zimmer und blieb am Fuß von Drews Liege stehen, und beim Anblick von Erics starrem Gesicht drängten sich weitere Formen in Drews Kopf. Er sah, weshalb Eric getan hatte, was er getan hatte, und zwar alles davon, von dem Tag an, als zwei Jungen unter einer Pappel miteinander bis zum Tod gekämpft hätten, wären sie nur stark und ausdauernd genug gewesen. Unmittelbar darauf folgten die Formen von Drews tobendem Vater, der im Rausch seine Kinder verprügelte, und die von Karl, durchbohrt und verbrannt von den Splittern der Bombe, die er nicht hoch genug geworfen hatte. Dessen schmorender Plasti-Overall sich durch die Haut schmolz und mit den Rippen verbuk. Eigentlich handelte es sich bei allen um die gleiche Form, die so häßlich war, daß Drew zum erstenmal spürte, wie sein anderes, losgelöstes Ich – das Ich, das die Formen beobachtete – davon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er schloß die Augen.
    »Er ist bewußtlos!« sagte Leisha, und der Doktor schnauzte sie an: »Nein, ist er nicht!«
    Doch selbst mit geschlossenen Augen sah Drew die Formen, die er und Eric hervorgerufen hatten, also war es sinnlos, die Augen geschlossen zu halten. Er öffnete sie wieder. Jetzt wußte er, wo der Sinn lag. Liegen mußte.
    »Leisha…« Seine Stimme überraschte ihn, denn sie klang schwach und sehr leise, obwohl er sich absolut nicht schwach fühlte. Er versuchte es noch mal. »Leisha, ich brauche…«
    »Ja? Was? Alles, was du willst,

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