Bettler 01 - Bettler in Spanien
den aktuellen Berichten kam eine Erwähnung von wissenschaftlichen Forschungen oder Erfolgen vor, die nicht durchsichtige Sensationsmache war, von aufregenden politischen Ideen, von ernster Musik wie Bach oder Mozart oder O’Neill, von Gedankengängen, die so komplex waren wie diejenigen, die sie und Tony tagtäglich diskutierten.
Nach weiteren sechs Monaten hörte sie auf, die Fernsehprogramme anzusehen.
Immerhin, eines hatte sich geändert: Großmutter war oft beschäftigt und verbrachte immer mehr Zeit in den Sharifi-Labors, also ging Miri mit allen Fragen zu ihrem Vater. Er wußte nicht immer die Antworten, und diejenigen, die er wußte, bildeten nur kurze, einseitige Fadenkonstruktionen in ihrem Kopf. Er hatte mit zehn Jahren die Erde verlassen, sagte er, und obwohl er manchmal geschäftlich dorthin zurückkehrte, verbrachte er nur selten seine Zeit mit Schläfern. Normalerweise wickelte er seine Geschäfte über einen Mittelsmann ab, einen Schlaflosen, der nichtsdestoweniger auf der Erde lebte, einen Mann namens Kevin Baker.
Baker war für Miri kein Unbekannter; er wurde in den Datenbanken ziemlich häufig erwähnt, aber er interessierte sie nicht sehr. Wenn sie an ihn dachte, dann mit leiser Verachtung: ein Mann, der allein unter den Bettlern lebte, von ihnen profitierte und diese Profite – die anscheinend enorm waren – den Bindungen in der Gemeinschaft vorzog. Aber sie hörte zu, wenn ihr Vater sprach, denn die Sendungen von der Erde hatten ihr Interesse an ihrem Vater geweckt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter konnte er Miris zuckendes Gesicht, ihre fahrigen Bewegungen und ihren übergroßen Kopf ansehen, ohne die Augen abzuwenden. Und er hörte auch geduldig ihrem Stottern zu. Er saß ruhig da, ein dunkelhaariger Mann mit niedriger Stirn, legte die Hände auf die Knie und hörte ihr verständnisvoll zu; doch in seinen Augen war etwas, das Miri nicht beim Namen nennen konnte, in wie viele Fäden sie es auch immer einzuspinnen versuchte. Alle Fäden begannen mit Schmerz.
»P-P-Papa, w-w-w-wo w-w-warst du?«
»Sharifi Labors. Mit Jennifer.« Anders als Tante Najla nannte Papa seine Mutter beim Vornamen. Miri wußte nicht genau, wann er damit begonnen hatte.
Sie sah ihn an. Leichter Schweiß stand auf seiner Stirn, obwohl Miri fand, es war kühl in ihrem Labor. Er wirkte erschüttert. Miris Fäden fingen seismische Erschütterungen ein, Adrenalineffekte, die Verdichtung von Gasen, die die Geburt von Sternen bewirkte. Sie sagte: »W-W-Woran a-a-arb-b-eiten d-d-die Lab-b-bors g-g-gerade?«
Ricky Keller schüttelte den Kopf. Er sagte zusammenhanglos: »Wann kommst du in den Hohen Rat?«
»M-M-Mit s-s-sechzehn. Z-Z-Zwei J-J-Jahre und z-z-zwei M-M-Monate no-noch.«
Er lächelte, und das Lächeln brachte einen Faden in Gang, der sich verblüffenderweise zu einer Schläfersendung spann, die Miri vor Monaten gesehen und an die sie seither nicht mehr gedacht hatte: es war eine – offenbar fiktive – Geschichte aus einem mystischen Buch, das etlichen Schläferreligionen zugrundelag. Es war die Geschichte eines Mannes namens Hiob, den man nach und nach all seiner Besitztümer beraubt hatte, ohne daß er sich dagegen gewehrt oder nach Wegen gesucht hätte, sie wiederzuerlangen oder zu ersetzen. Miri hatte Hiob für rückgratlos gehalten oder für dumm – oder für beides – und das Interesse an der Geschichte verloren, noch ehe die Sendung beendet war. Aber das Lächeln ihres Vaters erinnerte sie nun an die resignierten Gesichtszüge des Schauspielers. Doch Vater wollte nicht mehr sagen als: »Gut. Wir brauchen dich in der Versammlung.«
»W-W-W-Warum?« fragte Miri umgehend und ärgerte sich, daß es so lange dauerte, bis das Wort heraus war, obwohl ihr warm ums Herz wurde, weil Papa sie für unentbehrlich hielt.
Aber er antwortete nicht.
Will Sandaleros sagte: »Jetzt.«
Jennifer beugte sich vor und starrte auf den dreidimensionalen holographischen Ballon. Anderthalbtausend Kilometer weit weg im Weltraum blies sich das Original mit Standard-Druckluft auf und entließ die Mäuse aus ihrem pseudo-hypothermischen Zustand. Die winzigen, medikamentengetränkten Pflästerchen an der Innenseite ihrer Halsbänder ließen ihre Körperfunktionen in kürzester Zeit wieder normal ablaufen. Innerhalb von Minuten zeigten die Biometer an den Halsbändern an, daß sie sich über das ganze Innere des Ballons verteilt hatten, dessen komplexe, mathematisch errechnete Topographie mit der von Washington, D. C.
Weitere Kostenlose Bücher