Bettler 01 - Bettler in Spanien
Kriterien automatisch Weisheit mit sich brachten.
Aber hatten sie das nicht alle gedacht? Von Tony angefangen?
Drews Lippen bewegten sich weich im tiefen Schlaf und saugten an einer nicht vorhandenen Brust.
Langsam wurde es heller im Raum. Erst graue Schatten, dann perlmuttweißer Nebel, durch den undeutliche Gestalten wanderten, und dann Licht, klar und hell. Drew versuchte, den Kopf zu drehen. Er spürte, wie ihm Speichel aus dem Mund rann.
Etwas bewegte sich in seinem Kopf – viele Etwas, alle von allerhöchster Wichtigkeit. Drew untersuchte sie nicht näher; er konnte sich das leisten, denn er wußte mit absoluter Sicherheit, daß dieses neue Ding in seinem Kopf nicht verschwinden würde, ehe er es nicht einer näheren Prüfung unterzogen hatte. Es würde überhaupt nicht mehr verschwinden. Er hatte es; es war er. Was er nicht hatte, war irgendeine Erinnerung an diesen Raum. An das, was sich darin zugetragen hatte. An diejenigen, die hier waren. Und warum.
Jemand in Weiß sagte: »Er ist wach.«
Gesichter öffneten sich wie Blüten über seinen Augen, eine amorphe Masse, die nur langsam Konturen annahm. Es waren die Gesichter von Krankenschwestern, die einander bedeutsame Blicke zuwarfen. Ein kleiner olivenhäutiger Doktor, dessen linkes Auge wild zuckte. Das Zucken griff auf Drew über, und er sah die Nervosität des Mannes, seine Angst, als gezackte rote Linie, die plötzlich wuchs und eine dreidimensionale Form annahm; in diesem Moment bewegte sich dieses neue Ding in Drews Kopf anmutig voran, um die rote Zackenform zu empfangen. Zugleich empfing es auch die Furcht und das Schuldbewußtsein aus den Winkeln seines eigenen Hirns, die beide losgelöst von seiner Person schienen und dennoch die seinen waren. Die Angst des Doktors und die seine – Eric, die Molotow-Cocktails, Karl im Feuer – vereinigten sich, und als Drew die beiden ineinander verschmolzenen Formen betrachtete und fühlte, wußte er, daß er diesen Mann kannte. Diesen Doktor, der sich sein Leben lang am Rand der Angst bewegte, indem er Risiken auf sich nahm – nicht um des Vermögens willen, das als Lohn für diese Risiken winkte, sondern um der Leere in seinem Innern zu entfliehen. Diesen Mann, für den Erfolg niemals genug war – könnte ich es nicht vielleicht besser gemacht haben? Wird jemand anderer es besser machen können? –, und für den Versagen totale Vernichtung bedeutete. Drew sah die Formen für eine nicht bestandene Prüfung auf der medizinischen Hochschule, für eine Ernennung, die statt an ihn an jemand anderen ging und für eine Sperre dieser Anlage hier und jetzt. Die ersten beiden waren die niedergeschlagenen, buckligen Formen des Versagens; die dritte war brennende Schadenfreude an einem Versagen, das nicht er verschuldet hatte, sondern das ihm von der Außenwelt aufgezwungen worden war. Und so wurde es zu einer Art Triumph, für den Drew ebenfalls die Formen sah, Formen ohne Worte, die sich nicht in sein Herz senkten – er spürte kein besonderes Mitgefühl –, sondern in die Schichten seines Geistes, wie eine Pflanze, die ihre Wurzeln in die Tiefe schickt. Ein Baum mit festem Stamm. Der Baum des Wissens, so wortlos, wie alle Bäume unter dem stillen Himmel sind.
Drew blinzelte. Es hatte nur eine Sekunde lang gedauert. Und er würde es für alle Zeiten wissen.
»Heben Sie den Kopf«, sagte der Doktor schroff, als wäre Drew derjenige, der ihn verletzt hatte, und nicht umgekehrt. Und Drew sah auch die Formen für diese Schroffheit. Formen tief aus seinem Innern trieben denen des Doktors entgegen und verschmolzen mit ihnen. Drew beobachtete sie dabei. Die Formen waren zwar er, aber er war mehr als das, etwas Abgetrenntes, etwas, das beobachtete und verstand.
Er hob den Kopf. Ein Monitor zu seiner Rechten begann leise und atonal zu piepsen. Der Doktor verfolgte konzentriert die Vorgänge auf dem Bildschirm.
Leisha stürzte ins Zimmer.
Bei ihrem Anblick explodierten so viele Formen in Drews Kopf, daß er kein Wort hervorbrachte. Sie beugte sich über ihn, warf einen Blick auf den Monitor und legte ihm eine kühle Hand auf die Stirn. »Drew…«
»Hallo, Leisha.«
»Wie… wie fühlst du dich denn?«
Er lächelte, weil die Frage unmöglich zu beantworten war.
Sie sagte gepreßt: »Du wirst bald wieder wohlauf sein, aber es gibt eine Menge, was du erfahren sollst. Du hast ein Recht, es zu wissen«, und Drew sah, wie klar und deutlich die Worte Leishas Gestalt annahmen, ihre Form: ein Recht, es zu wissen.
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