Bettler 01 - Bettler in Spanien
abgerissen worden war. Er hielt eine tropische Blüte mit dicken, milchweißen Blütenblättern und einem leuchtendrosa Herz in der Hand. Leisha schrie auf, und er sagte mit klarer Stimme: »Du hast nicht versagt, Leisha. Nicht bei Sanctuary, nicht bei Alice, aus der du etwas Besonderes machen wolltest, nicht bei Richard, nicht bei deiner Einstellung zu Recht und Gesetz. Der einzige Fehler, den wir begehen können, wäre, unsere persönlichen Talente nicht zu nutzen, doch du hast das getan. Dein ganzes Leben lang. Du hast dich stets bemüht, es zu tun.«
Leisha stieß einen kurzen Schrei aus und erhob sich aus dem Sessel. Sie ging auf ihren Vater zu, und er verschwand nicht, nicht einmal, als sie direkt unter dem Holoprojektor vor ihm stand. Nur die Blüte in seiner Hand verschwand, und er ergriff Leishas Hände, ehe er leise sagte: »Du warst das einzige Ziel meines persönlichen Strebens«, und Leisha schüttelte heftig den Kopf. Sie hatte eine blaue Schleife im Haar; sie war wieder ein Kind. Die Hauslehrerin kam mit Alice herein, und Alice sagte: »Du hast mir nie unrecht getan. Leisha. Nie. Es gibt nichts zu verzeihen.« Dann verschwanden sowohl Alice als auch Roger, und Leisha rannte durch einen Wald, der voller Sonnenschein war – grün-goldene schräge Strahlen, die zwischen den Bäumen einfielen. Sie lachte, als sie im Licht die Wärme spürte, die von den lebenden Pflanzen ausging, und den Duft des Frühlings und den Geschmack des Verzeihens. Nie zuvor hatte Leisha sich so frei und froh gefühlt, als würde sie genau das tun, wofür sie geschaffen war. Sie lachte wieder und lief schneller, denn am Ende des sonnendurchfluteten, blumenbestandenen Pfades wartete ihre Mutter mit ausgebreiteten Armen und lachendem Gesicht, aus dem die Liebe leuchtete.
Tränen waren auf ihren Wangen. Sie saß in einem Sessel in dem weißgekalkten Raum, und die Lichter brannten wieder. Augenblicklich wurde sie von Übelkeit befallen.
»Was hast du gesehen?« fragte Drew begierig.
Leisha krümmte sich zusammen und kämpfte gegen den Krampf in ihrem Magen an. Schließlich keuchte sie. »Was… hast du gemacht?«
»Sag mir, was du gesehen hast!« Er war unerbittlich – ein junger Künstler.
»Nein!«
»Dann war es also intensiv.« Lächelnd lehnte er sich zurück.
Leisha richtete sich langsam auf und griff nach der Rückenlehne des Sessels, um sich daran festzuhalten. Drews Gesichtszüge spiegelten seinen Triumph. Etwas ruhiger sagte Leisha: »Was hast du gemacht?«
»Ich ließ dich träumen.«
Träumen. Sechs Teenager im Wäldchen, und eine Phiole Interleukin-1… aber das hier hatte nichts mit damals gemein. Nichts.
Das hier war wie jene Nacht während Jennifers Prozeß gewesen, in der Alice in dem Hotelzimmer in Conewango aufgetaucht war. Die Nacht, in der Leisha ihren Glauben an die Fähigkeit des Gesetzes, eine Gemeinschaft zu schaffen, verloren hatte; damals stand sie zitternd am Rand…
Finsternis…
Die Leere…
Aber dieser Traum, den Drew ihr vermittelt hatte, war Licht gewesen, nicht Finsternis. Und doch war er das gleiche, davon war Leisha überzeugt. Der Rand von etwas Riesigem, Gesetzlosem, etwas, das den dürftigen, sorgfältig gehüteten Lichtstrahl ihrer Vernunft verschlucken konnte… Und dann war Alice über dieses riesige Unbekannte zu ihr gekommen. Alice hatte Leisha gehört – auf irgendeine geheimnisvolle Weise, die nichts mit dem Lichtstrahl zu tun gehabt hatte. Ich wußte es, hatte Alice geflüstert. Und gegen jede vernunftmäßige Erklärung war sie direkt zu Leisha geeilt.
Und nun hatte Drew gegen jede vernunftmäßige Erklärung einen unbekannten Teil ihres Gehirns manipuliert…
»Es beginnt mit einer Art von Hypnose«, erklärte Drew bereitwillig, »die die Hirnrinde umgeht und allgemeine… Formen hervorruft. Ich nenne sie Formen, aber sie sind mehr als das, nur habe ich nicht die rechten Worte dafür – du weißt, Leisha, die hatte ich noch nie. Ich weiß nur, daß sie in mir und in jedem anderen Menschen sind. Ich bringe sie an die Oberfläche, rufe sie heraus, so daß sie ihre eigenen Gestalten im Traum der jeweiligen Person annehmen können. Es ist eine Art von Wachtraum, halbgesteuert, aber es ist mehr als das. Etwas ganz Neues.« Er holte tief Atem. »Es ist von mir.«
Logische Fragen beruhigten sie immer: »Halbgesteuert? Du meinst, du hast festgelegt, was ich… träumen würde?« Aber sie hielt den sachlichen Tonfall nicht durch. Sie hatte zu viele verschiedene Emotionen, und
Weitere Kostenlose Bücher