Bettler 01 - Bettler in Spanien
noch schlimmer gemacht. Sie ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Am Abend, als sie sich überlegt hatte, wie sie die Sache mit ihm besprechen und was sie sagen sollte, um der ganzen Episode eine rationale Perspektive zu verleihen, berichtete Stella, daß Drew gepackt hatte und abgereist war.
Miri nahm ihren Sitz im Tagungshaus ein. Es war ein neuer Stuhl; man hatte ihn an ihrem sechzehnten Geburtstag den anderen vierzehn, die um den matt glänzenden Metalltisch standen, hinzugefügt und am Boden festgeschraubt. Von nun an würden sieben Stimmen den Anteil von einundfünfzig Prozent am Vermögen von Sanctuary, der der Familie Sharifi gehörte, repräsentieren; und nächstes Jahr, wenn Tony seinen Sitz einnahm, würden es acht sein. Der Stuhl knarrte leise, als Miri sich setzte.
»Der Hohe Rat von Sanctuary freut sich, Miranda Serena Sharifi als stimmberechtigtes Mitglied willkommen heißen zu dürfen«, sagte Jennifer formell. Die Ratsmitglieder applaudierten. Miri lächelte. Großmutter hatte einen Moment lang die Anspannung gelockert, die so greifbar war, daß ihre Strömungskurven auf einer Heller-Matrix aufgeschienen wären. Unter ihrer gesenkten Stirn hervor ließ Miri den Blick um den Tisch wandern; sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den Kopf möglichst gesenkt zu halten, da dies, wie sich im Spiegel zeigte, das Zucken auf ein Mindestmaß zu reduzieren schien. Ihre Mutter applaudierte, ohne Miri anzusehen. Vater lächelte mit dieser resignierten Melancholie in den Augen, die jetzt kaum mehr wegzudenken war. Nur die schöne Tante Najla, die bereits mit dem nächsten Super schwanger ging, starrte Miri mit entschlossener Unerschrockenheit an.
Die nicht ständigen Ratsmitglieder lächelten auch, aber Miri kannte sie nicht gut genug, um zu wissen, was ihr Lächeln jeweils zu bedeuten hatte. Sie fragte sich, ob sie ihr ihre plötzliche Macht neideten. Aus der Bibliothek wußte sie, daß die Satzungen von Sanctuary weitaus großzügiger mit den Familienmitgliedern umgingen als bei jedem Familienunternehmen auf der Erde. Und in den ›Schicksalsdramen‹, die auf den Sendekanälen der Erde liefen, schien es eine übliche Vorgangsweise zu sein, wenn die jungen Männer ihre Väter, die über Wirtschaftsimperien oder Großgrundbesitz oder Orbitalstationen verfügten, einfach umbrachten, um an die Macht zu kommen. Worauf sie sich gern mit den dritten Frauen ihrer toten Väter verheirateten. Doch das war ein so barbarisches und abstoßendes System, daß Miri zu dem Schluß gekommen war, es handelte sich hierbei wohl nicht um die Norm für die Art und Weise, wie die Bettler ihre Angelegenheiten regelten. Sie liebten es offenbar, wenn ihre ›Schicksalsdramen‹ Situationen erkundeten, die keinen Bezug zur Realität hatten. Und das war eine so dumme Vorstellung, daß Miri sich zum zweitenmal angeekelt vom Normalprogramm abwandte und zu den Sexkanälen zurückkehrte.
»Wir haben eine volle Tagesordnung«, sagte Jennifer mit ihrer wohltönenden Stimme. »Ratsmitglied Drexler, würden Sie bitte mit dem Bericht des Leiters der Finanzabteilung beginnen?«
Der Bericht des Kassenwarts, eine Routinesache und wie gewohnt positiv, trug nichts dazu bei, um die Spannung zu lösen. Nun, da sie nicht mehr das Zentrum der Aufmerksamkeit darstellte, konnte Miri unter ihrer gesenkten Stirn hervor ein Gesicht nach dem anderen studieren. Irgend etwas stimmte nicht. Aber was?
Die Ratsmitglieder, die für Rechtsfragen, Medizin und Landwirtschaft zuständig waren, erstatteten Bericht. Hermione wand eine Strähne ihres honigfarbenen Haars – wann hatte Miri zum letztenmal das Haar ihrer Mutter berührt? Vor Jahren… – um einen Finger, legte die Locke auf einen anderen Finger und wand sie um den nächsten, wieder und wieder. Najla strich mit der Hand über ihren angeschwollenen Bauch. Ratsmitglied Devore, ein dünner junger Mann mit großen, sanften Augen, sah aus, als würde er auf heißen Kohlen sitzen.
Schließlich sagte Jennifer: »Noch einen Nachtrag zum medizinischen Bericht, den ich Ratsmitglied Devore gebeten habe, zur allgemeinen Diskussion zu stellen. Wie die meisten von euch schon wissen, hat es einen Unfall gegeben.« Jennifer senkte abrupt den Kopf, und Miri sah mit großem Erstaunen, daß sie eine Sekunde brauchte, um fortfahren zu können. Nie hätte Miri daran gezweifelt, daß Großmutter gefeit war gegen sichtbare Gemütsbewegungen.
»Tabitha Selenski von Kenyon International ist bei der
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