Bettler 01 - Bettler in Spanien
Gemeinschaft. Schuldet die Gemeinschaft ihren Mitgliedern nicht vollste Unterstützung?«
»Aber was macht denn ein Mitglied einer Gemeinschaft aus?« gab Will ihm zu bedenken. »Ist es eine automatische Angelegenheit – einmal beigetreten, ist man für alle Zeiten Mitglied? Das birgt langfristig die Gefahr von Passivität in sich. Oder heißt, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, daß man dieser Gemeinschaft mit aller Kraft dient und seinen aktiven Beitrag zu ihrem Fortbestand leistet? Würde etwa Ihre Versicherungsgesellschaft, Ratsmitglied Jamison, einen Klienten weiterhin in der Liste der Versicherten führen, wenn er aufhört, seine Prämien zu zahlen?«
Jamison schwieg.
Letty Rubin rief: »Aber eine Gemeinschaft ist doch keine Geschäftsvereinbarung! Eine Gemeinschaft muß mehr bedeuten als das!«
Jennifers Stimme hackte scharf in ihre letzten Worte: »Es sollte bedeuten, daß Tabitha Selenski sich wünscht, nicht zur Last für ihre Gemeinschaft zu werden! Ihre Grundsätze und ihre Würde sollten ihr verbieten, ab nun das Pseudoleben eines Bettlers führen zu wollen, was heißt, daß sich in ihrem Testament die Standardklausel zum Abbruch der Lebensfunktionen finden sollte. In meinem steht sie, in dem von Will und auch in deinem, Letty. Tabitha hat sie unterlassen; damit ist sie unseren Grundsätzen untreu geworden und hat sich außerhalb dieser Gemeinschaft gestellt.«
»Selbsterhaltung ist ein angeborener Trieb, Mutter«, sagte Ricky Sharifi.
»Es ist möglich, unsere angeborenen Triebe zum Wohl zivilisierten Miteinanderlebens zu steuern und zu unterdrücken. Es geschieht andauernd. Sexuelle Treue, staatliche Gesetze zur Schlichtung von Streitfällen, Inzesttabus – was ist das anderes als die willentliche Unterordnung unserer Triebe unter das Gemeinwohl? Angeboren wäre uns wohl der Trieb, uns aus Zorn und Rachsucht den Schädel einzuschlagen oder bis zur Gehirnerweichung zu ficken, wann immer uns der Drang dazu überkommt!«
Miri starrte ihre Großmutter an. Nie, noch nie zuvor hatte Jennifer solche Wendungen in den Mund genommen! Großmutters Sprechweise war sonst stets förmlich, ja beinahe pedantisch. Doch im nächsten Moment sah Miri, daß es sich um ein bewußtes dramaturgisches Element gehandelt hatte, und sie spürte leichten Abscheu, gefolgt vom Gefühl heftiger Drehbewegungen ihres Magens. Großmutter verließ sich nicht auf ihre Argumentation allein, um den Hohen Rat davon zu überzeugen, daß Tabitha Selenski getötet werden mußte.
Getötet.
Fäden wirbelten durch ihren Kopf.
»Was sind denn die Schlaflosen anderes als die personifizierte Unterdrückung eines angeborenen Triebes?« warf Jean-Michel Devore nervös ein.
Jennifer bedankte sich mit einem Lächeln.
Najla Sharifi sagte: »Der Schlüssel zu alldem ist unsere Definition einer Gemeinschaft. Ich denke, da sind wir alle einer Meinung. Unsere Definition postuliert gewisse Grundzüge – wie Schlaflosigkeit –, gewisse Fähigkeiten, gewisse Prinzipien. Was davon ist Bedingung? Was davon ist freigestellt?«
»Ein guter Ausgangspunkt«, konzedierte Will Sandaleros und nickte.
»Ein Mitglied unserer Gemeinschaft muß über alle drei verfügen«, sagte Jennifer. »Über Schlaflosigkeit, über die Fähigkeit, die Gemeinschaft zu stärken, statt von ihr zu zehren, und über die Fähigkeit, das Gemeinschaftswohl über die eigenen unmittelbaren Wünsche zu stellen. Jeder, der nicht über all das verfügt, ist nicht nur zu verschieden von uns anderen sondern in echter Gefahr.« Sie beugte sich vor, die Handflächen auf den Tisch gelegt. »Glaubt mir, ich weiß es.«
In das darauffolgende Schweigen sagte Hermione mit leiser Stimme: »Jeder, der zu verschieden von uns denkt, ist kein wahres Mitglied unserer Gemeinschaft.«
Miris Kopf zuckte hoch. Sie starrte ihre Mutter an, die beharrlich den Blick abwandte. Alle Fäden in Miris Kopf drehten sich und kehrten – langsam – ihre Innenseite nach außen. Eine Sekunde lang blieb Miri der Atem weg.
Doch ihre Mutter hatte gemeint, wer zu verschieden dachte, was die Prinzipien betraf…
Worte aus zwei Dutzend Sprachen webten sich in Miris Fäden: Haridschan. Proskrit. Bui doi. Inquisition. Kristallnacht. Gulag.
»Eine G-G-Gemeinsch-schaft, d-d-d-d…« In ihrer Aufregung konnte sie die verdammten Wörter noch weniger hervorbringen als sonst, »d-d-die in g-g-grundl-l-legend-d-den D-D-Dingen e-e-entz-z-zweit ist, z-z-zerst-t-tört s-s-sich s-s-selbst.«
»Und deshalb dürfen wir uns
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