Bettler 01 - Bettler in Spanien
ersten Januar.«
Jennifer nickte. Ihr Blick wanderte zu dem Holoporträt von Tony Indivino an der Wand. Nach einigen Sekunden kehrte er zurück zu ihrem Ehemann, aber Will stand über die Computerausdrucke der für Sanctuary zu erwartenden Steuersummen gebeugt und bemerkte es nicht.
Miri schaffte es einfach nicht, Tabitha Selenskis Tod aus der vordersten Front ihrer Gedanken zu verdrängen. Egal, woran sie dachte und womit sie sich beschäftigte – mit ihren neurochemischen Forschungen, mit Tony und seinen Scherzen, mit dem Haarewaschen –, Tabitha Selenski, der Miri nie begegnet war, verhedderte sich in ihren Gedankenfäden und wurde von ihnen erstickt.
Erstickt. Miri hatte die Substanz in der Spritze, an der Tabitha gestorben war, untersucht und herausgefunden, daß ihr Herz augenblicklich stillgestanden haben mußte. Ohne die Pumparbeit des Herzens konnten die Lungenflügel keine Luft bekommen. Tabitha war an ihrer eigenen, bereits verbrauchten Luft erstickt, doch ohne es zu bemerken, weil der Inhalt der Injektion ebenso augenblicklich alles lahmgelegt hatte, was von ihrem Gehirn übrig war.
Miri saß allein im Spielplatzballon im Herzen von Sanctuary und dachte an Tabitha Selenski. Eigentlich war sie schon zu alt für den Spielplatz, aber sie besuchte ihn gern, wenn er leer war; dann konnte sie sich langsam von einem Haltegriff zum nächsten gleiten lassen, und mangels Schwerkraft und Beobachter war ihre Schwerfälligkeit plötzlich verschwunden. Und heute schienen ihre Gedankenfäden so einsam und verlassen wie der Spielplatz.
Nein, nicht einsam. Fünf weitere Personen, einschließlich ihres Vaters, hatten zusammen mit ihr dafür gestimmt, Tabitha auch als Bettlerin in Sanctuary weiterleben zu lassen. Aber die Motive dafür waren unterschiedlich – die Gründe, die Argumente für das Erbarmen, dem sie ihre Stimme gaben. Miri fühlte den Unterschied, aber sie konnte den Finger nicht darauf legen, weder in Worten, noch in Form von Fäden, und das war enorm frustrierend. Es war das alte Problem: Etwas fehlte in ihren Gedanken, irgendeine unbekannte Art von Assoziation oder Zusammenhang. Warum konnte sie nicht einen Sondierungsfaden über den Unterschied zwischen ihrer Stimme und der der anderen spinnen und so erfahren, worin dieser Unterschied bestand? Ihn erklären, prüfen, ihn in das ethische System eingliedern, an dem Tabitha Selenskis Unfall ebenso gekratzt hatte wie an Miris Seele. Es fehlte etwas, irgend etwas, das für Miri wichtig war; dort, wo eine Erklärung sein sollte, befand sich ein Loch.
Sie blickte auf die Felder und Kuppeln und Wege hinab. Sanctuary sah hübsch aus in dem weichen, UV-gefilterten Sonnenlicht. Wolken zogen an einem Ende auf; das Betreuungsteam plante wohl Regen. Sie mußte im Wetterkalender nachsehen.
Sanctuary. (SanctuariumZufluchtsstätteKirchenRechtSchutz von Menschen und Eigentumdas Abwägen der Rechte des Individuums gegen jene der GesellschaftLockePaineRebellionGandhider einsame Kreuzzug auf einer höheren moralischen Ebene… ) Für die Schlaflosen beinhaltete Sanctuary all das. Es war auch ihre, Miris, Gemeinschaft. Und warum hatte sie dann das Gefühl, als hätte Tabithas Tod sie an einen Ort gestoßen, wo die Heiligkeit der Zufluchtsstätte entweiht worden war (Becket in der Kathedrale, Blut auf den Steinplatten… )? An einen Ort, wo es letzten Endes auch keine Sicherheit gab?
Langsam kletterte Miri aus dem Spielplatzballon und machte sich auf die Suche nach Tony, der zwar auch keine Antworten auf all das haben würde, der aber wenigstens die Fragen verstand. Jedenfalls so weit, wie sie selbst sie verstand, was plötzlich nicht mehr allzu weit aussah. Etwas absolut Wesentliches fehlte.
Was?
Ende Oktober erlitt Alice einen Herzanfall. Sie war dreiundachtzig Jahre alt. In der Folge lag sie still da, die Schmerzen von Medikamenten betäubt. Leisha saß Tag und Nacht an ihrem Bett; sie wußte, es konnte nicht mehr lange dauern. Alice schlief zumeist, und kaum erwachte sie, glitt sie umgehend wieder zurück in ihre Träume, und manchmal erschien dabei ein leichtes Lächeln auf ihrem verhutzelten Gesicht. Leisha hielt ihre Hand, ohne die leiseste Idee, wohin die Gedanken ihrer Schwester wanderten, bis eines Nachts Alices Augen klar wurden, sich auf Leishas Gesicht konzentrierten, und ein so warmes, inniges Lächeln in ihren Zügen erschien, daß Leisha den Atem anhielt und sich über sie beugte. »Ja, Alice? Ja?«
»Papa g-gießt die Blumen!« flüsterte
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