Bettler 01 - Bettler in Spanien
nicht entzweien in Leistungsfähige und Schmarotzer«, fügte Jennifer rasch hinzu.
»D-D-Das h-h-habe ich n-n-n-nicht gem-m-meint!«
Sie diskutierten fünf Stunden lang. Nur Najla, die als Folge ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft Rückenschmerzen bekam, verließ vorzeitig die Versammlung, nachdem sie ihren Ehemann bevollmächtigt hatte, an ihrer Stelle abzustimmen. Und schließlich lautete das Stimmenverhältnis neun zu sechs: Tabitha Selenski mußte die Gemeinschaft verlassen. Falls ihr Ehemann es wünschte, würde sie zu den Bettlern auf die Erde geschickt werden.
Miri hatte mit der Minderheit gestimmt – genau wie, überraschenderweise, ihr Vater. Der Mehrheitsbeschluß bestürzte sie, obwohl sie sich selbstverständlich daran halten würde. Sie schuldete Sanctuary Treue und Ergebenheit. Aber sie war verwirrt und wollte das alles mit Tony durchdiskutieren, so, wie nur sie beide dazu imstande waren – mit der ganzen Breite und Tiefe aller Querverbindungen, Assoziationen dritten Grades und Sinnkopplungen. Tonys Computerprogramm war ein voller Erfolg geworden; die SuperS benutzten es jetzt routinemäßig für die Kommunikation untereinander, denn es erlaubte ihnen, umfangreiche programmierte Sinngefüge ohne die ermüdenden Barrikaden der Sprache auszutauschen. Sie wollte so schnell wie möglich zu Tony.
Aber vor dem Tagungshaus hielt ihr Vater sie zurück. Ricky Keller hatte Ringe unter den Augen. Plötzlich kam Miri der Gedanke, daß jemand, der ihn und seine Mutter im Ratssaal Seite an Seite sitzen sah, gewiß Jennifer für die jüngere von beiden gehalten hätte. Mit jedem Jahr wurde Ricky sanftmütiger. Und jetzt legte er eine Hand auf Miris Schulter: »Ich wünschte, du hättest meinen Vater gekannt, Miri.«
»D-D-Deinen V-Vater?« Niemand sprach je von Richard Keller. Miri wußte alles von dem Prozeß gegen Jennifer; was er ihr, seiner Frau, angetan hatte, war ungeheuerlich.
»Ich glaube, du gleichst ihm in vielerlei Hinsicht, obwohl du eine Super bist. Vererbung funktioniert komplizierter als wir ahnen, auch wenn wir noch so selbstgefällig darüber denken. Nicht alles hängt von bestimmbaren Genen ab.«
Er ging davon. Miri wußte nicht, ob sie erfreut oder gekränkt sein sollte. Richard Keller, der Verräter an Sanctuary. Üblicherweise meinten die Leute, sie käme nach ihrer Großmutter – ›einer willensstarken Frau‹. Aber in den Augen ihres Vaters hatte außer der üblichen Melancholie Wärme gelegen. Miri starrte der gebeugten Gestalt nach, die sich von ihr entfernte.
Am nächsten Tag starb Tabitha Selenski durch eine tödliche Spritze. Einem hartnäckigen Gerücht zufolge hatte sie sich die Injektion selbst verabreicht, aber das glaubte Miri nicht. Wäre Tabitha dazu fähig gewesen, hätte die Ratsversammlung nicht so entschieden, wie sie entschieden hatte. Tabitha hatte nur noch dahinvegetiert. Das war die Wahrheit. Großmutter hatte es gesagt.
Buch IV
BETTLER
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»Kein Mensch ist gut genug, um einen anderen Menschen ohne dessen Einverständnis zu beherrschen.«
Abraham Lincoln, Peoria
16. Oktober 1854
22
Der einhundertzweiundfünfzigste Kongress der Vereinigten Staaten stand vor einem jährlichen Handelsbilanzdefizit, das im Laufe der vergangenen zehn Jahre um sechshundert Prozent angewachsen war, einer Staatsschuld, die sich mehr als verdreifacht hatte, und einer Fiskalschuld von sechsundzwanzig Prozent. Fast ein Jahrhundert lang waren die Y-Energie-Patente von Kenzo Yagais Erben seinem exzentrischen Letzten Willen entsprechend exklusiv an amerikanische Firmen vergeben worden. Dieser Umstand hatte den längsten wirtschaftlichen Aufschwung in der Geschichte des Landes zur Folge gehabt. Mit Hilfe der Y-Energie hatten sich die Vereinigten Staaten um die Jahrtausendwende aus einer gefährlichen internationalen Wirtschaftskrise und einem noch gefährlicheren internen Konjunkturtief gerettet. Es waren Amerikaner, die alle bekannten Geräte für eine praktische Anwendung von Y-Energie entwickelten und herstellten, und jedermann brauchte die Y-Energie. Von Amerikanern entworfene und von amerikanischer Energie angetriebene Orbitalstationen umkreisten die Erde; von Amerikanern gebaute Flugzeuge durchquerten die Lüfte; in Amerika erzeugte Waffen wurden auf dem Schwarzmarkt jedes größeren Landes der Welt gehandelt. Y-Generatoren sicherten das Überleben der Kolonien auf Mars und Mond. Und auf der Erde säuberte die
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