Bettler 01 - Bettler in Spanien
antwortete nicht. Großmutter versuchte nicht, sie anzurufen.
Sie saß in einer Ecke des Labors auf der Erde, und ihre dünnen, zuckenden Arme umfaßten die angezogenen Knie. Innerlich bebte sie vor Zorn. Zornesstürme fegten alle Fäden hinweg, alle Gedanken; alle geordneten komplexen Gefüge wurden von Wogen primitiver Wut hinweggespült, die ihr keinerlei Ängstlichkeit verursachte. Es gab einfach keinen Platz für Ängstlichkeit. Der Zorn vereinnahmte jeden Winkel ihres Gemüts und ließ nur Raum für einen einzigen Gedanken, der am Rande dessen existierte, was einst ihr Ich gewesen war: Die Hypermodifikationen betreffen Emotionen ebenso stark wie Prozesse im Cortex. Der Gedanke war uninteressant. Nichts schien von Interesse außer Miris Zorn über Tonys Tod.
Über Tonys Ermordung.
Am dritten Tag erweckte eine Notüberbrückung aller Sperren jeden Bildschirm in Miris Labor zum Leben, selbst jene Monitore, die für den lokalen Empfang nicht vorgesehen waren. Miri blickte auf und ballte die Fäuste. Die Erwachsenen waren besser, als sie gedacht hatte, wenn sie Tonys Programm umgehen konnten… Aber das war nicht möglich, niemand hatte die Computersysteme so beherrscht wie Tony, niemand… Tony…
»M-M-Miri«, sagte Christina Demetrios’ Gesicht, »l-l-aß uns r-r-rein! B-B-Bitte!« Und als Miri nicht reagierte, fügte sie hinzu: »I-I-Ich h-h-hab’ ihn auch g-g-geliebt!«
Miri kroch zur Tür, die Tony mit einem komplizierten Sperrmechanismus aus manuell zu aktivierenden und Y-Feld-Komponenten versehen hatte. Sie verlor fast das Bewußtsein durch die Anstrengung des Kriechens; sie hatte nicht bemerkt, daß ihr Körper so geschwächt war. Ein immerzu auf Hochtouren laufender Metabolismus wie der ihre verbrauchte normalerweise riesige Mengen von Nahrung.
Sie öffnete die Tür. Christina kam herein, eine große Schüssel SojErbs in den Händen. Es folgten ihr Nikos Demetrios und Allen Sheffield, Sara Cerelli und Jonathan Markowitz, Mark Meyer und Diane Clarke und zwanzig weitere; jeder Super von Sanctuary, der über zehn Jahre alt war, drängte sich zuckend und ruckend in Miris Labor, die breitflächigen Gesichter unter den großen, leicht mißgebildeten Schädeln tränennaß oder wutverzerrt oder heftig arbeitend unter rasend schnellen Denkprozessen.
Nikos sagte: »S-S-Sie h-haben es g-g-getan, w-w-weil er einer v-v-von uns w-w-war!«
Miri wandte langsam den Kopf und sah ihn an.
»T-T-T-T-Tony w-w-w-w-w-…« Das Wort wollte nicht heraus. Nikos schoß hinüber zu Miris Terminal und rief das Programm auf, das Tony entworfen hatte, um das Fadengebilde zu konstruieren, das Nikos’ Gedankenmustern entsprach, sowie das Umwandlungsprogramm zu Miris Mustern. Er tippte die Stichworte ein, studierte das Resultat, änderte Schlüsselstellen, studierte das Vorhandene erneut und änderte es wieder ab. Christy hielt Miri wortlos die Schüssel mit SojErbs hin. Miri stieß sie weg, warf einen Blick auf Christys Gesicht und aß doch einen Löffel voll. Nikos drückte die Taste, um sein Gedankengebäude in Miris Konstruktion umzuwandeln, und sie versenkte sich hinein.
Es war alles da: Die dokumentierte Überzeugung der SuperS, daß Tonys Tod keine Ähnlichkeit mit jenem von Tabitha Selenski hatte. Die medizinischen Unterschiede waren da: Tabithas Großhirnrinde war zerstört gewesen, hingegen zeigten die Scannerresultate von Tonys Gehirn und der Autopsiebericht einen ungewissen Grad von Beeinträchtigung; die Ablesungen ließen keinen Schluß zu auf das, was von seiner Persönlichkeit noch vorhanden geblieben war. Keinen Zweifel ließen sie jedoch, was die Zerstörung gewisser Hirnstammstrukturen betraf, welche die Produktion von GenMod-Enzymen regulierten. Tony wäre vielleicht noch Tony gewesen – vielleicht auch nicht; er hätte vielleicht noch seine kompletten geistigen Fähigkeiten besessen, vielleicht aber auch nicht; um darüber Gewißheit zu erlangen, war zu wenig Zeit geblieben. In jedem Fall jedoch hätte er einen mehr oder weniger großen Teil des Tages schlafend zugebracht.
Die medizinischen Unterlagen, die sich die SuperS aus den Klinikaufzeichnungen geholt hatten – selbstverständlich ohne den geringsten Hinweis zu hinterlassen, daß jemand in die Datenbänke eingedrungen war –, standen nicht allein unter Miris Hologerät. Sie waren eingeknüpft in Fäden und Querfäden aus analytischen Betrachtungen über Gemeinschaftskonzepte, über die Eigendynamik einer anhaltenden Isolation von Gemeinwesen,
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